Morgens dann immer: Katerstimmung. Nach der Übertragung von drei Spielen pro Tag während der Fußball-Europameisterschaft, nach all den Vorberichten und Analysen und Talks zwischendurch und hintendrein, fällt man nach Mitternacht siegestrunken ins Bett. Man hat wieder durchgehalten, bis tief in die Nachspielzeit. Im Halbschlaf zischen Flankenbälle wieder und wieder vor dem inneren Auge vorbei, Echos des Torjubels branden durchs Ohr, einem Tinnitus gleich. Es war einmal mehr zu viel von allem.
Zur Ausnüchterung bieten sich zwei Möglichkeiten an: entweder kalter Entzug - also einen fußballfreien Tag einlegen (allerhöchstens die zweite Halbzeit eines Spiels schauen). Oder aber das Konzept Konterhalbe: Fußball schon zum Frühstück. Kaffeemaschine einschalten und das Internetradio, allerdings: Fangesänge statt Weltnachrichten.
Pochers Partylied ist so etwas wie der Hit unter all den Fußball-Hits
Antenne Bayern sendet während der EM das Webradio Fußball Hits. "Flanke, Kopfball, Tor, so stellen wir uns das vor", reimt Oliver Pocher im Song "Schwarz und weiß". Das Leben und speziell der Fußball können manchmal so einfach sein. Pochers Partylied ist so etwas wie der Hit unter all den Fußball-Hits, er wird in dem Webradio beinahe ebenso häufig gestreamt, wie der französische Stürmer Kylian Mbappé seinen Gegenspielern davonläuft.
"Schwarz und weiß" bedient auch das dominante Genre dieses Musikstreams: deutsche Party-Trash-Songs. Wenn Pocher mal Pause hat, singt Mickie Krause wahlweise "Oh wie ist das schön", "Ich liebe Deutschland" oder "Schatzi, ich bin für Deutschland". Jürgen Drews wiederum ist mit einer textlich abgewandelten WM-Version von "Ich bau dir ein Schloss" in der Rotation, und Die Atzen prophezeien: "Das geht ab".
Das könnte alles so auch in einem anderen Webradio von Antenne Bayern laufen, bei den Oktoberfest-Hits. Die haben bei dem Privatsender das ganze Jahr über Saison, und wenn man tatsächlich mal rüberklickt, hört man im Wiesn-Stream prompt den "Modeste Song" von Ikke Hüftgold, eine Hommage an den Stürmer Anthony Modeste, der mal ein, zwei gute Jahre beim 1. FC Köln hatte.
Radio zum Mitgrölen: Alle sollen sich wohlfühlen auf der akustischen Fanmeile
Radio zum Mitgrölen. Allerdings sollen sich alle wohlfühlen auf dieser akustischen Fanmeile. Jedenfalls werden keine Vereinshymnen gespielt, zu groß ist offenbar die Furcht, die Fans der Münchner Löwen nachhaltig zu vergraulen, liefe der FC-Bayern-Heuler "Stern des Südens". Entweder es wird in den Liedern für Deutschland getrommelt, oder aber es laufen Klassiker wie die offiziellen Turniersongs von Nelly Furtado ("Força", EM 2004) und den Lightning Seeds ("Three Lions (Football's coming home)", EM 1996).
Der Stream besteht nicht aus einer starren Playlist, die in Endlosschleife läuft, sondern ist kuratiert von den Musikredakteuren bei Antenne Bayern und wird gesteuert von Algorithmen, die diese festgelegt haben. Und wenn Fußballanhänger alles Fanwissen ausgetauscht haben über verschossene Elfmeter und Weltklasse-Torwartparaden der vergangenen fünf Jahrzehnte, können sie sich immer noch darin messen, wer besser als die anderen weiß, welchen Fußballbezug welches Lied hat. Das ist nicht immer so simpel wie "Flanke, Kopfball, Tor".