Medienkolumne "Abspann":Schön laut war die Zeit

Borussia Dortmund Fans in der Münchner "Clemensburg", 2011

Fußballgucken in Prä-Corona-Zeiten: Laut, eng und wundervoll.

(Foto: Robert Haas)

Jetzt, da Corona das Fußballgucken in der Kneipe unmöglich macht, fällt erst auf, was man daran hatte: An diesem kleinsten Stadion der Welt, das doch immer nach Arena schmeckte.

Von Harald Hordych

Jetzt, da auf unabsehbare Zeit der Fußball nicht mehr so in der Kneipe stattfinden wird, wie man das lange gewohnt war, nämlich voll, eng, dicht gedrängt, stellt sich die Frage: Was war eigentlich so Besonderes daran, und warum sollte man diesem seltsamen Liveerlebnis auch nur eine Träne nachweinen? Ist es nicht im Grunde ein Segen, dass Hunderttausende nicht mehr zig Euro dafür ausgeben, um sich in Kneipen die Hälse zu verdrehen - nur um einen Blick auf einen der Monitore zu erhaschen?

Die Kneipe war das kleinste Stadion der Welt, aber es schmeckte nach Arena

Tatsächlich war das Ritual des Einzugs in die Sky-Kneipen vor allem mit allerhand Mühen und Hürden verbunden. Da fällt es erst mal leicht zu denken: Gott sei Dank ist der Spuk vorbei! Zu Hause ist es doch am schönsten: Das kalte Bier steht in Griffweite bereit, und der eine auserwählte Corona-Freund sitzt im Sessel mit zwei Metern Sicherheitsabstand und bewertet jede Aktion mit hundert Prozent mehr Sachverstand als viele fremde Kneipenzuschauer, denen man zurufen möchte: Du weißt schon, dass das kein Völkerball ist, Plaudertasche!

Dazu kam bei den Spielen, die einen schon Tage vorher in höchste Unruhe versetzt hatten, der Stress, sich nur ja einen guten Platz in seiner Lieblingskneipe zu sichern. Nichtfußballfans können angesichts solcher Überlegungen nur ratlos den Kopf schütteln, aber wer das Spiel genießen wollte, brauchte freie Sicht zum Monitor, und zwar von einer Position aus, die nicht dazu führte, von hinten angebrüllt zu werden: Du bist nicht aus Glas! Weil die einschlägigen Gaststätten um diese Nöte wussten, hatten sie mitunter recht perfide Reservierungsmodalitäten ersonnen. Der Gast musste vielerorts mindestens eine Stunde vor dem Anpfiff seinen Platz einnehmen.

Die Taktik der Wirte war dabei so durchschaubar wie die Mauertaktik des FC Chelsea beim Sieg 2012 im Finale dahoam (hinten reinstellen): Wer 90 Minuten vor Anpfiff zum Spiel erscheint, überbrückt die Wartezeit durch intensives Wahrnehmen der gastronomischen Angebote. So saß man dann am Ende beim Anpfiff nicht nur dicht gedrängt, sondern auch dichtgetränkt, nur um ein Spiel zu sehen, das die eigene Mannschaft 0:4 verlor. Zu Hause macht man dann den Fernseher aus und sucht Vergessen, in dem man innerhalb von 30 Sekunden im Bett liegt. In der Kneipe begann der lange traurige Heimweg mit dem Warten auf den Kellner, bei dem plötzlich alle gleichzeitig zahlen wollten.

Nun gut, warum fehlt einem das Vor-Corona-Feeling trotzdem so sehr? Es war ja eine alte neue Erfindung, als die Bezahlsender den Öffentlich-Rechtlichen die Fußballschau stahlen und die Menschen wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren förmlich gezwungen wurden, wieder den Fanmarsch in die Kneipe anzutreten. Vor dem Rauchverbot übrigens nicht selten in so richtig schön mit Nikotin vollgedampfte Spelunken.

Aber das sind alles unwichtige Kleinigkeiten. Die volle Fußballkneipe war das Stadionerlebnis ohne nervige stundenlange Anfahrt, ohne Regen, ohne Kälte. Das Ah und Oh und Uiiiiiih der Kneipensitztribüne war trotzdem da. Sogar Szenenapplaus wurde gespendet. Die Kneipe war das kleinste Stadion der Welt, aber es schmeckte nach Arena, nach Jubel, nach Glückstaumel. Fußball zu Hause schmeckt immer ein bisschen nach: "Schatz, machst du mal ein bisschen leiser, und du weißt schon, dass du morgen früh rausmusst?"

Beim Fußballschauen in der Kneipe baute sich eine Spannung auf, die sich nur an einem Ort aufbauen kann, wo 50 Menschen ihr gesamtes existenzielles Denken und Wollen ausschließlich auf die letzte Ecke des Spiels richten, auf diese allerletzte Chance vielleicht doch noch den Ausgleich und die Verlängerung rauszuholen. Wenn dann das Tor tatsächlich fällt, jubelt man mit Leuten, die ja vorher überhaupt keine Ahnung hatten, und jetzt, wo man sich selig in den Armen liegt, mit jedem Wort absolut recht hatten und wie wir schon immer wussten, worauf es bei diesem Spiel ankommt.

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