Friedrich Merz hat vor ein paar Wochen etwas sehr Unangenehmes gesagt. Er hat gesagt: "Wir brauchen die nicht mehr. " Gemeint waren nicht die Wähler, was für manche Politiker vielleicht die beste aller Nachrichten wäre. Merz meinte mit "die" jene Menschen, "die Nachrichten verbreiten", also die Journalisten.
Mit "wir" hatte er auf die Menschen angespielt, die nach seiner Lesart Nachrichten erzeugen, also Politiker, oder vielleicht auch, weil er vor den Gästen des Aachener Karnevalsvereins (AKV) beim "Rittertalk" gesprochen hatte, Karnevalisten, unter deren schillernden Narrenkappen sich bei solchen Anlässen viele Wirtschaftsbosse und nachgeordnete Politiker verbergen.
Im Nachgang erst lösten Merz' Worte in den letzten Tagen Empörung aus. Er hatte nämlich von einer begrüßenswerten Machtverschiebung gesprochen. Wörtlich: "Und das ist das Schöne: Sie können heute über Ihre eigenen Social-Media-Kanäle, über Youtube ein Publikum erreichen, das teilweise die öffentlich-rechtlichen, auch die privaten institutionalisierten Medien nicht mehr erreichen." Leute wie er hätten die Möglichkeit, "ihre eigene Deutungshoheit auch zu behalten über das, was sie gesagt haben".
Verschiedene Journalisten waren daraufhin entweder schrecklich beleidigt oder schrecklich wütend. Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten Verbandes (DJV), Frank Überall, der seinem Namen alle Ehre macht, was die Frequenz seiner öffentlichen Stellungnahmen angeht, konfrontierte Merz im offenen Brief mit der Frage: "Sehen Sie in uns Journalistinnen und Journalisten eine überflüssig gewordene Berufsgruppe? Glauben Sie ernsthaft, dass Videos, Tweets und Facebook-Postings als Informationsquellen der Bürgerinnen und Bürger ausreichen?" Klar, dass Merz dem DJV umgehend antwortete und der sogleich Merz ' Replik veröffentlichte, er habe "in keiner Weise die Bedeutung und Notwendigkeit der Presse in Frage gestellt".
Nun - zu dieser Richtigstellung hätte der DJV Friedrich Merz mit seinem Brief gar nicht drängen müssen. Denn der hoch motivierte Machtpolitiker Merz hat nicht in Trump'scher oder Johnson-Manier dem Qualitätsjournalismus den Krieg erklärt. Er hatte lediglich etwas festgestellt, das längst alle wissen. Außerdem wollte er mit der Aussage, dass er sich darüber freue, provozieren. Es gibt keinen Grund zu jammern. Merz gibt Journalisten vielmehr die Gelegenheit, ehrlich zu sich selbst zu sein und sich einzugestehen, dass sie sich darüber genauso freuen können wie Friedrich Merz. Vielleicht sogar noch mehr.
Für das Nachrichtenverbreiten gab es vor Twitter die Pressemitteilung, die an die Redaktionen geschickt wurde, damit diese sie in der Zeitung druckten. Und es gab und gibt die sogenannte Pressekonferenz. Journalisten erschienen mit Block und Kugelschreiber, heute mit Smartphone. Sie protokollieren das Wesentliche, entscheiden sich für Schwerpunkte der Aussagen und schreiben das für ihr Medium auf.
Journalisten sind nicht dazu da, Politikern oder wem auch immer von Nutzen zu sein
Die Rolle des Chronisten und Aussagenüberbringers war und ist teilweise immer noch eine der wesentlichen Rollen der Journalisten. Diese Zeiten könnten vor allem in der Bundes- und Landespolitik bald endgültig vorbei sein. Es gibt ja Twitter. Und Journalisten können dann überlegen, ob sie die Tweets aufgreifen und in welchen größeren Kontext sie diese Textchen stellen sollen.
Merz hat mit seiner frohlockenden Bemerkung eine Entwicklung auf den Punkt gebracht, die zwei Fragen aufwirft: Schadet das dem Journalismus und damit indirekt auch der Demokratie in diesem Land? Und muss es Journalisten kratzen, wenn ein Politiker sagt, dass er sie für eine bestimmte Aufgabe nicht mehr braucht?
Zum einen sind Journalisten sowieso nicht dazu da, von Politikern gebraucht zu werden. Sie werden von der Gesellschaft gebraucht, weil sie Transparenz herstellen, weil sie Hintergründe beleuchten, Missstände aufdecken, Zustände möglichst objektiv in ihren Widersprüchen aufdecken, Menschen in ihrer komplexen Persönlichkeit vorstellen und, nicht zuletzt, auf der Grundlage von recherchierten Fakten und veröffentlichten Statements die richtigen Fragen stellen.
Ihre Aufgabe ist es nicht, Politikern von Nutzen zu sein. Übrigens auch nicht Konzernvorständen, Fußballvereinsvorsitzenden, Museumsdirektoren oder Theaterintendanten. Also sollte der Dank der Journalisten an Friedrich Merz gehen, weil er klargestellt hat, dass er sie nicht mehr braucht. Denn wenn er sie bisher gebraucht hat, dann ist sowieso etwas in der Zusammenarbeit falsch gelaufen. Auch weiterhin werden Medien aufmerksam verfolgen, was Merz von sich gibt, egal wo. Journalisten lesen auch Twitter.
Die zweite Antwort ergibt sich aus der ersten. Wenn Journalisten die Rolle des Aussagenübermittlers nicht mehr erfüllen müssen, dann sollte das kein Anlass zur Betrübnis und erst recht kein Auslöser von Selbstzweifeln sein, sondern ein Anlass zum Aufatmen. Denn es kommt einer Befreiung von einer lästigen Aufgabe gleich.
Ein Blick in die Geschichte des Interviews hilft das zu verstehen. 1867 hat ein Journalist der New Yorker Associated Press (AP) etwas Revolutionäres getan. Joseph Burbridge McCullagh hat als erster Reporter in Washington die US-amerikanischen Senatoren dazu gebracht, ihm für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Das französische Entrevoir - die kurze Begegnung - stand nämlich Pate für das englische Wort Interview. Der Journalist, der sonst lediglich Überbringer der Aussagen und Entscheidungen der Senatoren war, trat zum ersten Mal zum öffentlichen Gespräch mit den Entscheidungsträgern an. Als jemand, der berechtigt war, den Mächtigen Fragen zu stellen. Nicht selten unangenehme Fragen.
Vielleicht sollte man sich diesen Sprung in der Evolution des Journalismus ab und zu vergegenwärtigen, um zu verstehen, worum es eigentlich geht. Wenn Merz Journalisten nicht mehr braucht für die Verbreitung seiner Ansichten, dann heißt das: Reporterinnen und Redakteure gewinnen Zeit, um sich wichtigeren Aufgaben zuzuwenden. Zum Beispiel: zu erklären, nachzufragen, zu kritisieren.
Merz' Einlassungen haben übrigens öffentlich erst Wirkung gezeigt, als sie in einer Zeitung publiziert wurden. Auf der Website des Aachener Karnevalsvereins mussten sie von der Aachener Zeitung mit journalistischem Gespür entdeckt werden. Als etwas, das der Zeitung eine Nachricht wert war.