Nowaja Gaseta:103 500 000 Dollar

Dmitrij Muratow präsentiert bei einer Auktion seine Friedensnobelpreis-Medaille

"Pro pace et fraternitate gentium", für Frieden und Brüderlichkeit der Menschen. So lautet der Spruch auf der Medaille. Am Montagabend präsentiert Dmitrij Muratow sie den Bietern in New York.

(Foto: David Dee Delgado/Reuters)

Der russische Journalist Dmitrij Muratow versteigert seine Friedensnobelpreismedaille - für Kinder in der Ukraine. Und erzielt eine Rekordsumme, die selbst der Auktionator kaum fassen kann.

Von Bernd Kramer

Die Gebote gehen schneller ein, als Mike Sandlers Stimme hinterherkommt, fast muss man sich Sorgen machen, wie sie sich da in Zweihunderttausenderschritten überschlägt. Zwölf Millionen Dollar, zwölf Millionen und zweihunderttausend, vierhundert-, sechs-, acht-... 13 Millionen Dollar. "Wow", sagt der Auktionator, "ich hätte mir mehr Wasser mitbringen sollen." Als drei Minuten später ein Helfer an sein Pult tritt und ihm Nachschub für die trockene Kehle reicht, ist man bereits bei 15 Millionen angelangt. Bei 16,6 Millionen ist man, als jemand im Saal in Manhattan, das Telefon am Ohr, aufsteht und das letzte Gebot abgibt, offenbar ein ganz neuer Bieter. Sandler bittet ihn darum, den Mundschutz abzunehmen und die Summe noch mal zu sagen, wie um sicher zu gehen, dass er auch jeden Cent richtig verstanden hat: 103 500 000 Dollar.

Nick? Alice? Der Auktionator fragt ein letztes Mal bei den Bietern im Saal. Jessica, nur zum Spaß gefragt, irgendein höheres Gebot? Aber nein, niemand will oder kann mehr drauflegen.

103,5 Millionen Dollar. So viel also ist die Medaille eines Friedensnobelpreises wert, zumindest diese Nobelpreismedaille des russischen Journalisten und Regimekritikers Dmitrij Muratow. Erst im vergangenen Jahr hatte das Komitee in Oslo den Chefredakteur der Nowaja Gaseta mit der Auszeichnung bedacht - für die schwierige Arbeit in einem zunehmend repressiven Staat, für den Kampf um die Meinungsfreiheit. Der russische Überfall auf die Ukraine war damals noch ein ferner Albtraum. Und am Ende vermochte auch ein Nobelpreis die Zeitung nicht vor dem zu bewahren, was dieser Albtraum für die Redaktion mit sich brachte: Am 28. März hat die Nowaja Gaseta ihr Erscheinen in Russland vorerst eingestellt, weil der Krieg in Putins Reich nicht Krieg heißen darf und Journalisten nicht Journalisten sein dürfen. Die Zeitung hatte am selben Tag eine Verwarnung von der Medienaufsicht bekommen, die zweite, damit hätte ihr der Entzug der Lizenz gedroht. Der Zensur hatte die Redaktion vorher noch zu trotzen versucht, indem sie etwa die "militärische Sonderoperation", wie der Krieg in den russischen Medien umschrieben werden muss, konsequent in Anführungszeichen setzte.

Sechs Journalistinnen und Journalisten der Zeitung wurden bei der Arbeit getötet

Gegründet wurde die Nowaja Gaseta 1993, in der Aufbruchszeit nach dem Ende der Sowjetunion. Schon damals gehörte Muratow zur Redaktion, unter Druck standen die Journalistinnen und Journalisten in den folgenden Jahren immer wieder. Anna Politkowskaja etwa, die über den Krieg in Tschetschenien berichtete und damit lange eine der prominentesten Stimmen der Zeitung war, wurde im Oktober 2006 in ihrem Wohnhaus in Moskau erschossen. Laut Nowaja Gaseta sind bislang insgesamt sechs ihrer Journalisten ermordet worden. Zuletzt traf die Gewalt auch den Chefredakteur Muratow. Anfang April, kurz nachdem die Zeitung ihrer Schließung durch die Behörden zuvorgekommen war, ist er nach eigenen Angaben von einem unbekannten Täter auf einer Zugfahrt mit ätzender roter Farbe überschüttet worden. Laut Gaseta weigerten sich die russischen Behörden, den Anschlag zu untersuchen.

Ein Teil der Redaktion arbeitet nun im Ausland weiter. Im April startete das Team von der EU aus eine Website, die aber wenige Tage später schon in Russland von den Behörden gesperrt worden sei. Zur Unterstützung der geflohenen Redaktion haben Journalisten nun in der Schweiz einen Verein gegründet, immer in der Hoffnung, dass zumindest ein Teil der Berichterstattung der Nowaja Gaseta aus dem Exil heraus die Zensur in Russland überwinden wird und den Menschen in Putins Staat die Wahrheit über die Verbrechen vermitteln kann, die in der Ukraine geschehen.

Und Muratow, der Chefredakteur, entschied, ein weiteres Zeichen gegen den Krieg zu setzen: Er gab seine Preismedaille zur Versteigerung frei, 175 Gramm Gold mit dem Konterfei des Stifters Alfred Nobel und dem auf der Rückseite eingravierten lateinischen Spruch "Pro pace et fraternitate gentium", für Frieden und Brüderlichkeit der Menschen. Der Materialwert liegt laut der Nachrichtenagentur AP bei etwa 10 000 Dollar, ein Bruchteil der Summe, für die die Medaille im Auktionshaus Heritage nun unter den Hammer kam. Mit dem Erlös soll die Arbeit des UN-Kinderhilfswerks Unicef für junge ukrainische Geflüchtete unterstützt werden.

Nowaja Gaseta: Um kurz vor 19 Uhr Ortszeit endet die Auktion in New York. Die Leinwand zeigt die letzten Gebote an. Umgerechnet erzielt die Medaille 98,46 Millionen Euro.

Um kurz vor 19 Uhr Ortszeit endet die Auktion in New York. Die Leinwand zeigt die letzten Gebote an. Umgerechnet erzielt die Medaille 98,46 Millionen Euro.

(Foto: Eduardo Munoz Alvarez/AP)

Wie dringend die Hilfe benötigt wird, unterstrich Muratow am Montagabend in New York in einer kurzen Ansprache zu Beginn der im Netz übertragenen Versteigerung. Zwei Drittel aller Kinder in der Ukraine hätten binnen weniger Wochen ihr Zuhause verloren, 40 Prozent der 16 Millionen Vertriebenen seien minderjährig: "So etwas ist noch nie zuvor passiert." Und dann erzählte Muratow die Geschichte eines Kindes aus dem zerbombten Mariupol, dessen Gebet laute: Lieber Gott, hilf mir, mein Telefon aufzuladen, so dass ich meine Mama anrufen kann.

So schlicht und nah der Wunsch erscheint, so groß und unerfüllbar ist er in diesen Zeiten: Die Kinderworte lösten beim Publikum im Auktionssaal im teuren Manhattan ein kurzes Lachen aus - das sogleich vernehmbar im Hals stecken blieb. "Ich bitte Sie alle, sich für einen Moment vorzustellen, dass es Ihr Kind wäre", sagte Muratow.

Nobelpreismedaillen erzielten zuletzt 2,2 und 4,7 Millionen Dollar

Muratows Benefizaktion ist zwar ungewöhnlich, aber der Journalist ist nicht der Erste, der seinen Nobelpreis in einer Auktion zum Kauf anbietet. Im Jahr 2013 wurde die Medaille des Molekularbiologen Francis Crick versteigert, ebenfalls beim Auktionshaus Heritage Auctions. Crick hatte 1962 zusammen mit James Watson und Maurice Wilkins den Medizinnobelpreis für die Entdeckung der Doppelhelixstruktur der DNA bekommen. Nach Cricks Tod brachte die Medaille 2,2 Millionen Dollar ein, den Erlös wollten die Hinterbliebenen der Wissenschaft zugutekommen lassen.

Im Jahr darauf wurde die Medaille von Cricks Mitpreisträger Watson bei Christie's in New York versteigert - für 4,7 Millionen Dollar. Geboten haben soll die Rekordsumme übrigens Alischer Usmanow, jener russische Oligarch, der in den frühen 2000er Jahren die Zeitung Kommersant gekauft hatte, womöglich sogar, wie manche damals vermuteten, auf Geheiß des Kreml, der das bis dahin regierungskritische liberale Wirtschaftsblatt so auf Linie bringen wollte - was Usmanow bestreitet. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine hat der Westen auch gegen den Putin-Vertrauten Usmanow Sanktionen verhängt und sein Vermögen eingefroren.

Auch wenn es nur symbolisch ist: Vor diesem Hintergrund dürfte es bei manchem besondere Genugtuung auslösen, dass die bisherige Rekordsumme, für die eine Nobelpreismedaille versteigert wurde, nun deutlich überschritten wurde. Preisträger Muratow konzentrierte sich in seinen Worten freilich nur auf die Geflüchteten der Ukraine, deren Not akut ist. "Ich werde diese Medaille nicht wiedersehen", sagte er, "aber ich würde gern die Zukunft der Menschen sehen, die von der Versteigerung profitieren." Wer die Medaille ersteigert hat, wurde noch nicht bekannt. Das Auktionshaus bestätigte jedoch noch am selben Abend, das Geld sei bereits überwiesen worden.

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:"Niemand weiß, wie weit er gehen wird"

Dmitrij Muratow ist Friedensnobelpreisträger und gerade als Mitbegründer der "Nowaja Gaseta", der wichtigsten unabhängigen Zeitung Russlands, in Bedrängnis. Ein unvollständiges Interview.

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