ORF und Netflix drehen "Freud":Sigmund im Verlies

FREUD

Im Bild der fiktive rastlose Freud, gespielt vom jungen österreichischen Schauspieltalent Robert Finster.

(Foto: Jan Hromadko)

Über Sigmund Freud wurde schon viel erzählt, mit einer aufwendigen Koproduktion wollen der ORF und Netflix trotzdem noch das Publikum begeistern - und schockieren. Ein Setbesuch in Prag.

Von Benjamin Emonts

Sigmund Freud als in Würde gealterter Mann mit weißen Haaren und in der Hand eine Zigarre - dieses gängige Bild des berühmten Psychoanalytikers sollte man ganz schnell vergessen. Freud trägt jetzt dunkles Haar und hat rot unterlaufene Ränder unter schwarzen, wahnwitzigen Augen. Er ist jung, kokainsüchtig, ein Rastloser, zerfressen vom Ehrgeiz. Und er ist in Gefahr. Düstere Fratzen lauern im verruchten Wien des späten 19. Jahrhunderts, Mörder, nackte Gestalten. Und aus dem Off dröhnt diese beängstigende, psychedelische Stimme.

Es ist eine dunkle Vorahnung, ein kurzer, aber vielsagender Blick in Freuds Seele, der sich im noblen Grand Hotel in der Prager Innenstadt ins Gedächtnis brennt. Auf einem Flatscreen zeigen der ORF und Netflix den ersten Trailer ihrer gemeinsamen Serie Freud , die in Prag und Wien gerade gedreht wurde. Unterstützt haben sie dabei die österreichische Produktionsfirma Satel Film und Bavaria Fiction, eine Tochter der Bavaria Film.

Mit Sigmund Freud haben sie einen Protagonisten gewählt, über den filmisch schon viel erzählt wurde. Neben zahlreichen Dokus gab es zwei bekannte Spielfilme. Freud von Regisseur John Huston lief im Jahr 1962, er konzentriert sich auf die Jahre, in denen Freud seine psychoanalytische Methode entdeckte. Zuletzt, im Jahr 2011, erschien dann Eine dunkle Begierde, ein Film von Regisseur David Cronenberg, der sich mit Freuds Verhältnis zu einem anderen Vorreiter der Psychiatrie, Carl Gustav Jung, beschäftigt. Netflix und ORF müssen sich also etwas einfallen lassen.

Es sind hochwertige Bilder, die die Produzenten vorführen, rasante, albtraumartige Sequenzen. Im ersten Quartal 2020 soll Freud erst im ORF und dann auf Netflix ausgestrahlt werden. Für den öffentlich-rechtlichen ORF ist die Serie eines der größten und wohl auch teuersten Projekte der vergangenen Jahre. Es geht um Reichweite und Prestige. Regisseur Marvin Kren verspricht vor einem Dutzend angereister Journalisten: "Es wird eine filmische Reise ins Unbewusste. Wir wollen begeistern und schockieren zugleich."

Am Set führt eine Steintreppe in ein feuchtes Gewölbe, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint

Die Dimension des Projekts offenbart sich einen Tag später im Prager Stadtteil Karlin. In einer Seitenstraße steht eine lange Schlange von Lastern, Männer verlegen Kabel und schleppen Technik aus den Fahrzeugen, eine kostümierte Schauspielerin verlässt gerade die Maske. Links von der Karawane thront ein riesiges altes Gebäude, das Invalidovna. Das einstige Krankenhaus wurde 1730 für zeitweise mehr als 1200 invalide Kriegsveteranen erbaut. Seine langen, meterhohen Gänge und der fußballstadiongroße Innenhof dienten schon als Kulisse für die ARD-Fernsehserie Charité. In Freud ist es nun das Alte Allgemeine Krankenhaus in Wien, in dem Freud als Psychiater praktiziert hat.

Mehr als 100 Menschen aus Europa arbeiten hier an Ton, Kulissen und Aufnahmen einer Serie, die im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielt. Der junge Freud findet sich dort in einer ausschweifenden Gesellschaft wieder, die Halt in spiritistischen Séancen sucht. Und er gerät mitten in eine mörderische Verschwörung.

Das Gefühl, dass die Serie nichts für schwache Nerven wird, bestätigt sich beim Abstieg in die düsteren Katakomben des Invalidovna, "den Narrenkeller", wie Szenenbildnerin Verena Wagner vorausschickt. Über eine Steintreppe geht es hinab in ein feuchtes Gewölbe, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Unweigerlich denkt man an Horrorszenen aus Saw, erwartet, dass angsterfüllte Schreie durchs Gewölbe hallen.

Ein Verlies weiter: eine große Holztruhe mit Öffnungen für menschliche Köpfe

Im fahlen Licht steht ein Folterstuhl mit Armfesseln hinter einem Stahlgitter, auf der Sitzfläche liegt eine Gitterhaube, Hannibal Lecter lässt grüßen. Ein Verlies weiter dann eine große Holztruhe mit Öffnungen für menschliche Köpfe. "Man sperrte die Versuchsmenschen in die Truhe, ließ heißes Wasser einlaufen und wartete, wie sie reagierten", erläutert die Szenenbildnerin. Nichts für Zartbesaitete, wie gesagt. Immerhin, über eine zweite Steintreppe gibt es einen Ausweg aus dem Folterkeller. In einem Zelt im Außenbereich - der Regen prasselt unaufhörlich an diesem Tag - sprechen die ORF-Fernsehfilmchefin Katharina Schenk und der deutsche Netflix-Manager Kai Finke zu den Journalisten.

Kooperationen mit öffentlich-rechtlichen Sendern sind für den Streamingdienst nicht neu. In Zusammenarbeit mit dem ZDF entstand bereits die Serie Parfum, die im vergangenen Jahr auf ZDF Neo ausgestrahlt wurde. Gemeinsam mit dem ZDF produziert Netflix außerdem derzeit die deutsche Superheldengeschichte Freaks. Kooperationen gab es auch schon mit belgischen, schwedischen und finnischen Sendern. "In den Redaktionen unserer öffentlich-rechtlichen Partner wird gut gearbeitet, und Ideen werden dort gut entwickelt", sagt Finke, der die Angebote dankend annimmt. Oder wie er es nennt: "Wir verzahnen die lokalen Erzählungen mit einem globalen Publikum." Wie viel Geld Netflix und der ORF für Freud ausgeben, darüber wurde "Stillschweigen vereinbart", sagt Spielfilmchefin Schenk. Sicher sei, dass der Sender durch die Kooperation so viele Menschen wie noch nie erreichen wird. Weltweit nutzen Netflix nach eigenen Angaben 140 Millionen Haushalte. Finke kündigt an, dass die Serie in etwa zehn verschiedenen Sprachen synchronisiert und in rund 30 weiteren untertitelt werde. Produzent Heinrich Ambrosch von Satel Film sieht darin eine große Chance für die einheimischen Talente: "Durch die Zusammenarbeit mit Netflix können wir für den Filmstandort Österreich extrem viel schaffen."

"Das sind so viele Drehtage, wie in meinem ganzen bisherigen Leben zusammen."

Mit Talenten meint er vor allen Regisseur Marvin Kren, der die Setgäste später bei einer Szene zusehen lässt. Kren sitzt mit Kopfhören auf einem Stuhl, vor sich zwei Bildschirme, den Blick auf das Geschehen vor sich gerichtet. Im Kunstnebel tänzeln verrückte Gestalten im Gang auf und ab, andere harren verstört in ihren Betten aus. Freud kommt aus einem Zimmer und geht auf zwei Frauen zu, die über ihn sprechen. Eine der beiden will, dass ihre kranke Tochter von dem Psychiater behandelt wird.

Kren wirkt dabei ernst, mehrmals lässt er die kurze Szene wiederholen, der Blick der Schauspielerin Ella Rumpf habe nicht mit der gewollten Sichtachse übereingestimmt, erklärt er. Einen kurzen Moment holt er die Schauspielerin zur Seite und spricht mit ihr. Dann geht es schnell. "Super, danke", ruft der Regisseur. Die Szene ist im Kasten.

Kren, 40, hat Netflix bereits mit der preisgekrönten Serie 4 Blocks von sich überzeugt. Für Freud hat der Wiener nun eigens das 100-köpfige Team zusammengestellt, er hat an den Drehbüchern mitgeschrieben und sämtliche Schauspieler ausgesucht. Für die Rolle des Freud, das ist durchaus mutig, hat er mit Robert Finster einen noch unbekannten, charismatisch wirkenden Hauptdarsteller engagiert. "Und er schaut verdammt gut aus", sagt Kren. Das mysteriöse, frei erfundene Medium Fleur Salomé spielt die erst 24-jährige Ella Rumpf.

Georg Friedrich, einer der bekanntesten Schauspieler Österreichs, verkörpert in der Serie ausnahmsweise nicht den Bösewicht, sondern einen Wiener Polizisten. Der deutsche Schauspielstar Rainer Bock spielt Unidirektor Theodor Meynert. In den Drehpausen bekommt man sie alle zu sprechen, in historischen Gewändern oder wie Bock mit angeklebtem Rauschebart. Normal ist die Dimension dieses Großprojekts mit 85 Drehtagen für die wenigsten. Hauptdarsteller Finster sagt grinsend: "Das sind so viele Drehtage, wie in meinem ganzen bisherigen Leben zusammen."

Wie wird man dem historisch bedeutendsten Wissenschaftler Österreichs gerecht?

Und für Marvin Kren? Der wirkt bei der Begrüßung in der Hotelbar locker und sehr überzeugt von sich. Bei einem tschechischen Bier, von dem er schwärmt, spricht er über die große Verantwortung, dem historisch bedeutendsten Wissenschaftler Österreichs gerecht zu werden. Er erzählt, wie er zur Vorbereitung Bücher und Essays gelesen, mit Psychoanalytikern gesprochen und selbst an Hypnosen teilgenommen habe, um zu begreifen, welch machtvolle Behandlungsmethode Freud damals besaß.

Die Frage, wie der junge Sigmund Freud tatsächlich gewesen sein könnte, kann Marvin Kren freilich nicht beantworten. "Er hat viele Aufzeichnungen über seine jungen Jahre absichtlich zerstört, weil er seine Biografie lenken und seine eigene Legende bilden wollte", sagt Kren. Als Regisseur blieb ihm schließlich das, was er am besten kann: Er ließ seine Fantasie spielen, die schon immer einen Hang zum Düsteren, Unheimlichen habe. Im Frühjahr wird sich zeigen, ob die Zuschauer seinen rastlosen, getriebenen Freud auch verkraften.

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Sigmund Freud (1856-1939), Austrian neurologist and psychiatrist who founded the psychoanalytic school of psychology. In his summer residence near his analytic couch. Ca. 1930.

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