Öffentlich-rechtlicher Rundfunk:Der Stolz Frankreichs

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Théâtre Mogador in Paris, vor einer Woche. Oceane Colom aka Suzane tritt auf beim Sendestart des neuen Kultursenders Culturebox.

Théâtre Mogador in Paris, vor einer Woche. Oceane Colom aka Suzane tritt auf beim Sendestart des neuen Kultursenders Culturebox.

(Foto: Bertrand Guay/AFP)

Kultur, vor allem Literatur, wird im TV und Radio unserer Nachbarn gefeiert, nicht versteckt. Über den großen Unterschied nur ein Land weiter.

Von Hilmar Klute

Als François Busnel neulich eine neue Folge von La Grande librairie moderierte, hatte er die Autorin Camille Kouchner zu Gast. Kouchners Roman über ihren Stiefvater, den Hyper-Intellektuellen Olivier Duhamel, der seinen Stiefsohn, Camilles Bruder, sexuell missbraucht haben soll, hält Frankreich seit Wochen in Wallung. Die Einschaltquote war hoch, La Grande librairie ist die wichtigste Literatursendung im französischen Fernsehen, die zur besten Sendezeit um 20.50 Uhr auf France 5 kommt.

Natürlich ist das keine allzu magische Publikumsfängerkunst, denn wegen Kouchners Buch ist bereits eine ganze Generation von intellektuellen Superspreadern mehr oder weniger erledigt. Deshalb geht es in dieser Sendung dann auch um mehr als um dieses Buch: Es geht darum, den Raum zu beschreiben, in dem seit Jahrzehnten sexueller Missbrauch als vermeintlicher Ausdruck eines hedonistischen, libertären und stillschweigend akzeptierten Kulturgebrauchs gerechtfertigt wurde.

François Busnel, der klug und einfühlsam fragt, erweitert die literarische Kritik um diese gesellschaftliche Einordnung, er erklärt damit die Relevanz von Kouchners Roman. Im Lauf der Sendung kommen weitere Experten zu Wort. Der Philosoph Marc Crépon beschreibt die Unfähigkeit jener Generation von einflussreichen, mächtigen Intellektuellen wie Olivier Duhamel, ihre sexuelle Aggression überhaupt als Unrecht zu begreifen. Die Juristin Marie Pierre Porchy und die Psychologin Muriel Salmona erklären, wie der Text von Kouchner in die Dunkelkammern der gesellschaftlichen Eliten des Landes hineinbrennt.

Diese Art, Literatur zu präsentieren, sie zu diskutieren, einzuordnen und zu prüfen, zeigt, welchen Stellenwert Literatur und literarisches Leben in Frankreich immer noch einnehmen. Und sie geben einen Eindruck davon, wie ernst und relevant Literatur dort genommen wird.

Literaturvermittlung im deutschen TV ? Entspannend oder schwer ironisch

Kleines Gedankenspiel: Wie hätte eine Sendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland ein solches Buch besprochen? Wäre es im Literarischen Quartett durchgenommen worden, und am Ende hätte es eine Abstimmung gegeben, ob alle Gäste den Roman gut gefunden haben? Wäre Denis Scheck mit Trikolore-Krawatte in Frankreich eingefahren, um Camille Kouchner in coronoasicherer Distanz vorm Centre Pompidou zu befragen, wie ihre Familie auf das Buch reagiert hat?

Dies zu mutmaßen ist auch deshalb ein bisschen ungerecht, weil es diese Art von Literatur in Deutschland gar nicht gibt: den literarisch anspruchsvollen Enthüllungsroman, der dem Genre der "J'accuse"-Literatur zuzurechnen ist, der anklagenden literarischen Gestaltung von realen, politischen und gesellschaftlichen Missständen.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: TV-Kritiker und als solcher ein Publikumsfänger: François Busnel.

TV-Kritiker und als solcher ein Publikumsfänger: François Busnel.

(Foto: Joel Saget/AFP)

Aber es gibt eben auch in Deutschland, anders als in Frankreich, keine derartige Fernseh-Literaturkritik. Literatur kommt durch das deutsche Fernsehen als Entspannungsmedium oder alternativ halt in schwerst ironisch gebrochener Bildsprache ins Haus. Der Besprechung eines Buches wird eine bestimmte Anzahl an Minuten zugesprochen. Was bis dahin nicht gesagt wurde, bleibt eben ungesagt. Für Literatur wird von den sich sonder Zahl ballenden Fernsehredakteuren eine Nische geschaffen, verlegen, nein: richtig verschämt.

Die Symbole für die Plauderei über Bücher sind das Sofa und die Bestsellerliste. Denis Scheck lässt um seine kleinen Drehorte mit Schriftstellern ein rot-weißes Absperrband ziehen. Das ist sicher lustig gemeint, andererseits symbolisiert das Absperrband haargenau die schon resignativ-ironische Haltung, mit der ein Fernsehliteraturkritiker in seine Sendung zu gehen hat: Stopp, hier machen wir etwas, hihi, das eh kaum wen interessiert. Wir wollen auch nicht stören, es ist ja auch schon Mitternacht, wenn das hier gesendet wird. Das ist desillusionierend, wenn man bedenkt, dass Literaturkritik mehr bewirken könnte als affirmativ oder nörgelnd Verkaufsbeihilfen zu leisten.

"In Frankreich", schreibt der große Romanist Ernst Robert Curtius, "und nur in Frankreich, wird die Literatur von der Nation als ihr repräsentativer Ausdruck empfunden." Dieser Satz ist 90 Jahre alt, und man muss natürlich ein Nostalgiker oder erzfrankofoner Kitschier sein, wollte man behaupten, er gelte nach wie vor uneingeschränkt. Doch wenn man den Stellenwert der Literaturkritik im französischen Fernsehen mit dem in Deutschland vergleicht, könnte man auf ganz trübe Gedanken kommen.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Zur besten Sendezeit: Autorin Christine Angot.

Zur besten Sendezeit: Autorin Christine Angot.

(Foto: Kamil Zihnioglu/AP)

Wäre es vorstellbar, dass im deutschen Fernsehen am Samstagabend eine dreistündige Sendung läuft, in der Schriftstellerinnen, Publizisten, Schauspielerinnen und Kolumnisten über Politik und Literatur diskutieren? Eine kulturelle Unterhaltungsshow wie On n'est pas couché, zu deren Moderatorinnen zuletzt auch die Schriftstellerin Christine Angot gehörte, die mit einem Inzest-Roman bekannt wurde und mehr noch durch ein Fernsehduell, bei welchem sie den konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon in den Studioboden argumentierte.

Kurze Programmschau: Bei uns läuft im Ersten am Samstagabend ein verlässlich rührseliger Fernsehfilm wie jener vom vergangenen Samstag, in dem der bebende Umweltaktivist Hannes Jaenicke sich selbst spielt, also einen bebenden Umweltaktivisten, der tote Wale betrauert, oder es läuft eine infantile Spielshow mit den has beens der goldenen Jahre, in den Dritten Programmen gibt es niederschmetternde Karnevalssendungen mit Funkemariechen hinterm Mundschutz, im Zweiten liegt vor Kommissarin Dingsbums wieder eine junge Wasserleiche im Kies, dann kommt das Aktuelle Sportstudio.

Unterdessen verabschiedet sich der WDR von drei seiner festen Buchrubriken, der BR hat schon vor Jahren seine Lesezeichen eingestellt, und in der Schweiz unterschreiben die Menschen eine Petition gegen die Streichung der SRF-Sendung 52 beste Bücher.

Während Corona im deutschsprachigen Rundfunk offenbar mit dem Abfilmen immer weiterer Spritzen, die in Senioren-Oberarme gestoßen werden und einer Minimierung der Kulturkontakte begegnet werden soll, wird der Rettungsauftrag in Frankreich anders aufgefasst. Seit einigen Tagen lässt France Télévision einen neuen, eigenen Kultursender laufen: Culturebox. 24 Stunden Theateraufführungen, Diskussionen, Filme und Projekte, um den Künstlern durch den Lockdown zu helfen. Jean Castex, der französische Premier, hat sich für den Sender eingesetzt. Zum Vergleich: Bundeskanzlerin Angela Merkel vermisst hierzulande schmerzlich, "was die Künstler uns geben und was nur sie uns geben können". Das ist Kulturpolitik als Blabla, als Winke-winke-Taschentuch.

Literatur ist spannend genug, sie braucht keine Präsentation hinter der Absperrung

Natürlich ist auch französisches Kulturfernsehen nicht unabhängig vom Betrieb, insbesondere die Literatursendungen nicht. Die großen Verlage Gallimard, Grasset und Seuil sind einflussreich, und niemand im öffentlich-rechtlichen Fernsehen möchte es sich mit den Verlegern verscherzen. So sieht es Nicolas Weill, Literaturkritiker bei Le Monde des livres und genauer Kenner des französischen wie des deutschen Literaturbetriebs. Weill glaubt, dass die Wirkmacht von Literatur und Literaturkritik im Fernsehen in den vergangenen Jahren auch in Frankreich kleiner geworden ist: "Es hat nicht mehr den Einfluss von Apostrophes." So hieß die berühmteste Literatursendung des französischen Fernsehens, moderiert von Bernard Pivot.

Apostrophes war auch das Modell für das Literarische Quartett im ZDF der Achtziger- und Neunzigerjahre. Diese deutsche Sendung hatte mit ihrem damals schon unzeitgemäßen, aber unterhaltsamen Schlachthofcharme das Zeug dazu, immerhin eine anregende Zumutung zu sein. Übrigens kannte auch das deutsche Fernsehen in seinen Anfängen eine Literaturkritik, die sich nicht auf die möglichst gefällige Präsentation von Büchern und Autoren kaprizierte, sondern diese mit ihrer jeweiligen Wirkung darstellte.

Damals führte der heute vergessene, früh verstorbene ZDF-Journalist und Aspekte-Mitbegründer Walther Schmieding Gespräche mit Autoren, die immer dann besonders interessant ausfielen, wenn die Anlässe spektakulär waren, ein Gespräch mit Günter Grass über Pornografie etwa oder das Interview mit dem vom eigenen Verlagskollektiv überrumpelten Klaus Wagenbach, der das Manifest der RAF veröffentlicht und neben dem politischen auch noch juristischen Ärger bekommen hatte. Sie sind heute noch Beispiele dafür, dass Gespräche über Literatur auch im Fernsehen spannend sein können, wenn sie nicht durch ein Absperrband vom gesellschaftlichen Reden und Denken getrennt sind. Es ist erstaunlich und eigentlich auch erbärmlich, wie wenig Lust ARD und ZDF auf eine Kultur haben, die sich selbst traut, statt sich zu gerieren wie eine verschämte Braut.

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