Post an Franz Josef Wagner:Lieber Brief an Deutschland,

Lesezeit: 4 Min.

Franz Josef Wagner, Kolumnist der "Bild"-Zeitung, hat einen "Brief an Deutschland" verfasst. Hier kommt die Antwort - Post an Wagner.

Hans-Jürgen Jakobs

Lieber "Brief an Deutschland",

"Beatnik, der sesshaft wurde" - Franz Josef Wagner, Kolumnist der Bild-Zeitung. (Foto: dpa)

findest Du, "hier schreibt ein Beatnik, der sesshaft wurde", wäre ein starker erster Satz? Oder hältst Du für besser: "Ein guter Reporter ist jemand, der Tote lebendig macht und hinter Lebenden die Toten sieht"? Ich frage Dich das, weil Du auf Deinen 160 Seiten immer auf der Suche bist nach diesem einen ersten großen wunderbaren Satz. Du findest keinen. Aber immerhin schöne zweite Sätze.

Dein Autor Franz Josef Wagner ist ein verzweifelter, melancholischer Suchender. 1985 fiel es ihm schwer, den Aufschlag zu finden bei jenem jungen Mann, der Boris Becker war. Der gerade Wimbledon gewonnen hatte und am liebsten über die dicken Adern der Martina Navratilova ("wie ein Pferd") redete. Damals, als Boris noch Bobbele war und dem Reporter von Bild erlaubte, ihn zum Prinzen eines Märchens zu erheben. Und der heute, auf wagnerianisch, der "Rote-Teppich-Junkie auf Sat1" ist.

Lieber "Brief an Deutschland", Du bist so übervoll mit Erinnerungen, dass Du ein Büchlein geworden bist. Was da alles ist! Das Kind sudetendeutscher Eltern, ein Kriegsflüchtling, zunächst "Polack" genannt. Die ersten fünf Jahre ohne Vater, der erst später aus dem Krieg nach Hause kommt. Die Scham, arm zu sein und Kornähren hinter Mähdreschern aufzusammeln, weil es dafür Milch gab (noch heute wird Franz Josef Wagner schlecht von Milch).

Der Vielleser und Möchtegern-Dichter, der mit 17 Jahren abhaut aus dem Lehrer-Reihenhaus, erst mit Schlafsack und Hemingway in den Wald, dann in die Schweiz (Flaschen sammeln, Flugzeuge säubern) und nach Paris (Möbel schleppen, Jean-Paul Sartre im "Café de Flore" treffen). Der Junge, der Bob Dylan auswendig kann, den die Mutter "Goldfasan" nennt und der schließlich Volontär bei Bild in München wird, weil man so am besten Schriftsteller werden könne, wie ein Journalist ihm erklärt hat. "Wir waren Strolche", sagt Franz Josef Wagner heute.

Lieber deutscher Brief, Du zeigst das Leben vor Generation Golf und Generation Praktikum. Du zeigst die Generation Angstschweiß. Man machte die Schwabinger Nächte mit dem schlaflosen Andreas Baader durch und stieg ohne Abitur auf. Dein Held FJW hat Skrupel vor dem "Witwen-Schütteln", also Informationen über Verstorbene zu besorgen, und kommt doch mit dem bizarrsten Stoff in der Bild-Redaktion an. Und schreibt tatsächlich sein Buch ( Das Ding) und bringt es zum Porsche, über den sich die Reihenhaus-Eltern leider auch schämen. Unter den Reichen der Republik ist in Deiner Welt, der Wagner-Welt, nur Axel Springer junior ein Vorbild. Dein Autor wärmt sich mit dem Fotografen, der Sven Simon hieß, 1973 im Jom-Kippur-Krieg an Panzern und wird in Zürich mit einem Kaschmir-Pullover beschenkt. Später bringt sich der Verlegersohn um und regt Wochen vorher ironisch einen gemeinsamen Postkartenverlag an: Der eine schreibt, der andere fotografiert.

Man kann nicht sagen, lieber langer Brief an Deutschland, dass Du geschwätzig bist. Du meinst es ernst. Du siehst im Gestern das Morgen. Du betrittst mit Deinen Erinnerungen "die Landschaft der gelebten Zukunft", wie Du selbst schreibst. Du vergleichst Deutschland alt mit Deutschland neu. Du machst es Dir schwer, unendlich schwer. Du bist sogar ins Misslingen verliebt. Dein Mond ist mal Mond, mal Poesie. Wenn Du an Deutschland denkst, siehst Du die Mörder der SS und die DDR-Grenzer.

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Du hältst die Bernauer Straße für wichtiger als das Borchardt. Dein Held bleibt immer allein: "Wie gern hätte ich in meinem Leben ein Mädchen kennengelernt, das mir Blumen pflückt." Dein Held kann bis heute nicht unbefangen mit Juden reden, er leidet an der "Nazikrankheit". Du, großer Brief an Deutschland, machst Dich lustig über die Mütter von heute, die wegen Mann-Kind-Haus-Yoga-Ballett erschöpfen und nicht den "Bruchteil eines Bruchteils der Trümmerfrauen" aushalten, wie Du schreibst. Du weißt, für Männer ist Inkontinenz schlimmer als Impotenz.

In Deiner Welt ist das Klacken der Schreibmaschine noch alles. Dies war der Sound des Journalismus, als er Freiheit vor den Flanellmännchen hatte. Es war die Melodie des Rauschs. Deines Rauschs. Ein Mac kann das nicht. Aber Du empfiehlst auch, bei einer kritischen Geschichte lieber den Betroffenen vorher anzurufen: "Du bist in dieser Situation ein Schwein, aber ein halbes." Als Dein Held, liebes Buch, einmal Bunte-Chefredakteur war, hat er inmitten all der "California Girls" eine frei ersonnene Geschichte über die angeblich unglückliche Caroline von Monaco abdrucken lassen und ein gefälschtes Interview mit Tom Cruise zu verantworten gehabt. Vom "Narrengold des Boulevards" schreibt der Mann, der Burdas Narr war. Und der Glück hat, weil Tom Cruise seine Schadenersatzklage gegen den Verlag zurückzieht. Der Burda-Jet verunglückt 1996 mit zwei Top-Managern an Bord. Der Schauspieler aus Hollywood schreibt: "Bin selbst Pilot. Tiefes Mitgefühl für den Verlust Ihrer Manager. Tom Cruise."

Dein großes Idol ist einer wie Peter ("Pepe") Boenisch, der langjährige Lenker von Bild, und Du verkündest: Man darf die heutigen Chefredakteure, die Fortysomethings, die Glücklichen, die mit Nutella aufgewachsen sind, nicht mit Boenisch vergleichen. Der Reporter Deines Deutschlands sucht und sucht, er schreibt und lebt davon, aber er wäre gern mehr als einfach nur Aufschreiber: "Wie ein Unfallarzt fühlt er sich, der nur noch den Tod feststellt, nutzlos."

Dein Reporter heißt Franz Josef Wagner, er dichtet und sitzt danach in der Kneipe. Er war in Vietnam bei der US-Armee, in Manila bei Muhammad Ali gegen Joe Frazier, im "Storkower Eck" im Ost-Berlin der DDR, er schlief in seinen Klamotten, er titelte in der Zeitung Super "Angeberwessi mit Bierflasche erschlagen" und lebt heute in Berlin-Charlottenburg, Mommsenstraße. Ein Bohemien, der mit den Geistern vieler Jahrzehnte in die Bar geht. Er ist ein Reporter, der nie Chefredakteur hätte werden dürfen, weil das nur etwas für Leute ist, die sich den Hintern gerne flach sitzen. Er zitiert Heine und Goethe. Er hat eine Autobiographie wie aus einem Transrapid heraus geschrieben. Flüchtig, intensiv.

Lieber "Brief an Deutschland", Franz Josef Wagner, der ohne Bindestrich, leidet an dem, was er liebt, an sich und an Deutschland. Sonst könnte er nicht schreiben. Man kann seine Gedankenwolken vorlesen und keiner langweilt sich. Das ist doch etwas. Das bleibt. So wie die Tochter, die nachfragt, wann das Buch denn fertig wird. Junge Frauen sind ins Gelingen verliebt.

Wenn es um den stärksten Anfang geht: Vielleicht ist die Sache mit dem Beatnik doch der beste erste Satz, vielleicht kann man Jack Kerouac einführen. Andererseits: Wer fragt schon nach dem ersten Satz, wenn er am Schluss angekommen ist?

Franz Josef Wagner, seit 2001 Kolumnist der Bild -Zeitung hat soeben ein Buch unter dem Titel "Brief an Deutschland" veröffentlicht (Diederichs Verlag 2010). Wagner, 67, war Chefredakteur bei der "Bunten" (1988 - 1991),bei der Super! (1991 - 1992) und bei der B.Z (1998-2000).

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