Fotojournalismus:"Wahrheit ist über Fotos nicht zu bekommen"

Zeigen, was ist? Journalistische Fotografie bleibe oft zu nah an der Oberfläche, beklagt Professorin Karen Fromm. Gerade in Krisenregionen plädiert sie für ein Offenlegen der Entstehungsbedingungen.

Interview von Florian Sturm

Fotojournalismus: Kriegsfotos wie Warren Richardsons dramatisches World-Press-Siegermotiv von 2015 erzeugen starke Empathie. Wissenschaftlerin Karen Fromm wünscht sich stattdessen Bilder, die eine Annäherung an die Komplexität von Konflikten suchen.

Kriegsfotos wie Warren Richardsons dramatisches World-Press-Siegermotiv von 2015 erzeugen starke Empathie. Wissenschaftlerin Karen Fromm wünscht sich stattdessen Bilder, die eine Annäherung an die Komplexität von Konflikten suchen.

(Foto: Warren Richardson/World Press Photo/AFP)

Am Donnerstag werden die World Press Photo Awards 2019 verliehen. Die Sieger stehen noch nicht fest, doch klar ist: Bilder aus Krisenregionen werden auch dieses Jahr wieder eine zentrale Rolle spielen. Das kürzlich veröffentlichte Buch "Images in Conflict / Bilder im Konflikt" beschäftigt sich mit Bedeutung und Wandel der Kriegsfotografie. Für Mitherausgeberin Karen Fromm ist sie längst zum Instrument geworden.

SZ: Frau Fromm, in Ihrem Buch wird die Frage gestellt, ob wir Bilder aus Krisenregionen überhaupt noch brauchen. Schließlich wüssten wir, wie es dort aussieht. Geht das nicht zu weit?

Karen Fromm: Mit dieser zugegeben radikalen Frage bringt das Künstlerpaar Broomberg & Chanarin die Situation des Fotojournalismus auf den Punkt, der aktuell an seine Grenzen zu stoßen scheint.

Inwiefern?

Gerade in der Konfliktberichterstattung über unterschiedlichste Regionen und Zeiten hinaus gibt es immer wieder ähnliche Bildmuster, die eine nahezu identische emotionale Symbolik aufrufen. Besonders häufig sind individualisierende und personalisierende Opferdarstellungen, beispielsweise mit Fotos von leidenden Kindern. Sie erzeugen starke Empathie, aber letztlich überlagern sie auch den politischen Kontext, der visuell schwerer zu vermitteln ist.

Das müssen Sie bitte erläutern.

Krieg und Konflikt sind keine permanente Abfolge dramatischer Ereignisse, die sich durch einzelne Fotografien abbilden ließen. So wird aus meiner Sicht der Konflikt sogar trivialisiert. Im Gegenzug braucht es mehr Bilder, die eine Annäherung an die Komplexität und die Struktur von Konflikten suchen, um die dahinter verborgenen Machtstrukturen zu zeigen.

Können bloße Fotografien Erfahrungen von Leid und Flucht überhaupt gerecht werden?

Nein, denn die Sichtbarkeit von Ereignissen, die Lesbarkeit von Welt im Medium Fotografie kann nie vollständig gelingen. Umso wichtiger ist es, dass jede Berichterstattung die Begrenztheit ihrer Annäherung reflektiert. Grundvoraussetzung eines journalistischen Selbstverständnisses sollte die Überzeugung sein, dass Bilder nie einfach zeigen, was vorhanden ist. Selbst mit Fotografien, die als authentisch oder dokumentarisch wahrgenommen werden, wird immer auch Politik gemacht.

Karen Fromm

Karen Fromm ist seit 2011 Professorin im Studiengang Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover und eine von drei Herausgeberinnen von „Images in Conflict / Bilder im Konflikt“.

(Foto: Arne Gutknecht)

Was genau meinen Sie damit?

Fotografien haben immer auch etwas mit Macht zu tun. Schließlich bedeutet jede Form der Sichtbarmachung auch, dass etwas anderes unsichtbar bleibt. Die amerikanische Essayistin Susan Sonntag meinte, es bestehe sogar die Gefahr, dass die Fotografie an die Stelle des Ereignisses tritt und dieses überlagert oder verdeckt. Es gibt eine Ambivalenz zwischen Aufdecken und Verdecken, zwischen Beschwören und gleichzeitigem Verdrängen des Schreckens.

Braucht der Fotojournalismus neue Visualisierungsstrategien?

Ja, denn wir beobachten tiefgreifende Veränderungsprozesse, die unsere Vorstellungen von Repräsentation, Dokumentation und fotografischer Zeugenschaft infrage stellen. Die Idee des Vor-Ort-gewesen-Seins sollte nur noch Ausgangspunkt von Bildjournalismus sein. Fotografie ist weniger ein Medium der Aufzeichnung von Wirklichkeit als ein Medium der Interpretation und Transformation - auch im Journalismus. Hier würde ich mir mehr Pluralität der fotografischen Sichtweisen und Perspektiven wünschen, mehr visuelle Erzählformen, die ihre Entstehungsbedingungen und ihre Kontextualität mitreflektieren.

Warum gibt es kaum Friedensfotografie? Der Alfred Fried Photography Award ist der einzige Wettbewerb in dem Bereich.

Das hat viel mit dem Funktionieren der Medienlandschaft zu tun, in der sich der Fokus auf die Krise, den Moment des dramatischen Ereignisses und das Leiden anderer etabliert hat. Dies ist der dominante Bilderdiskurs, nach dem wir aktuell Fotografien beurteilen, weshalb solche Bildmuster auch stark in Preisen und auf Festivals für journalistische Fotografie vertreten sind.

Kann Fotografie proaktiv Frieden stiften, statt nur reaktiv abzubilden?

Klassische journalistische Fotografie agiert in ihrem Warten auf das Ereignis häufig eher passiv. In ihrem vermeintlichen Zeigen, was ist, bleibt sie oftmals nah an der Oberfläche. Eine proaktive, im Idealfall "friedensstiftende" Fotografie wäre für mich eine, die stärker unter die Oberfläche des offenkundig Sichtbaren zu gehen sucht, um Strukturen zu vermitteln, die vielleicht schon offenkundig werden, bevor sich etwas eignet.

Die Frage nach Authentizität und Fälschungssicherheit digitaler Fotografien flammt regelmäßig neu auf. Kann man noch sicher sein, ein "echtes Bild" einer "echten Situation" anzuschauen?

Wahrheit ist über Fotos nicht zu bekommen. Trotzdem brauchen wir nichts so sehr wie journalistische Glaubwürdigkeit in Zeiten von Fake News. Tatsächlich kann das gedruckte Foto allein nicht Aufschluss darüber geben, ein "echtes Bild" einer "echten Situation" zu sein. Bilder sind immer gemacht, spiegeln die Wirklichkeit nie einfach wider, sondern erzeugen eine eigene Realität.

Sind die Jurys renommierter Fotopreise in der Lage, Fälschungen zu enttarnen?

Über die Analyse der Raw-Daten und die Arbeit von Bildforensikern lassen sich viele Manipulationen aufdecken. Doch diese können nicht nur in der Nachbearbeitung, sondern in jeder Phase des Entstehungsprozesses geschehen. Deshalb gibt es immer wieder neue Manipulationsskandale, und die Frage nach dem "echten Bild" muss permanent ausgehandelt werden.

Kriegsberichterstatter arbeiten unter schwer vorstellbaren Bedingungen. Ist "objektive Wahrheit" in solchen Situationen überhaupt möglich?

Es gibt keine "objektive Wahrheit", weder im Krieg noch woanders. Wir müssen aufhören, Fotografien mit einem Wahrheitsversprechen in Verbindung zu bringen. Es handelt sich dabei um Annäherungen an Wirklichkeiten und Perspektiven auf Realitäten. Um journalistische Glaubwürdigkeit im Umgang mit Bildern herzustellen, brauchen wir einen neuen Diskurs über die Integrität von Bildern, wir müssen mehr Transparenz zu Bild- und Verwendungsprozessen herstellen, Quellen offenlegen. Fotografen müssen die Begrenztheit dessen, was sie zeigen, kenntlich machen, um Glaubwürdigkeit zu erlangen.

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