Süddeutsche Zeitung

Fernsehnation Brasilien:Blut, Leichen - und dann das Wetter

In Brasilien haben mehr Leute einen Fernseher als einen Kühlschrank. Die meisten sehen TV Globo - und übernehmen das dort gezeigte Weltbild.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Soeben hat der Omnibus 393 in Richtung Caju einen Motorradfahrer erwischt. Der Mann liegt jetzt mitten auf einer vierspurigen Schnellstraße, die durch Rios Nordzone führt, und krümmt sich vor Schmerzen. Der Busfahrer ist ausgestiegen und wedelt wild mit den Armen. Ein Notarzt ist noch nicht in Sicht und auch keine Polizei, es kommt keiner durch, weil sich hinter dem Unfall bereits ein langer Stau gebildet hat. Live dabei sein dürfen allerdings die Zuschauer des Frühstückfernsehens von TV Globo.

Morgens um sieben Uhr sind die Verkehrsreporter des größten brasilianischen Fernsehnetzwerkes traditionell in Hubschraubern unterwegs und filmen die interessantesten Geschichten aus dem Berufsverkehr. Hier ein Toter, da ein Verletzter, dort ein Mega-Stau.

Anschließend sind jene Kollegen dran, die man in Deutschland Polizeireporter nennen würde. Sie berichten ausführlich über die neuesten Diebstähle, Überfälle und Raubmorde. Irgendwas passiert ja immer in den Nächten von Rio de Janeiro. Am nächsten Morgen gibt es dann im Fernsehen wieder frisches Blut, Leichen und weinende Familienangehörige. Danach kommt das Wetter.

Wenn man den Tag mit einer Stunde TV Globo beginnt, dann muss man davon ausgehen, dass Brasilien ein Land ist, in dem es nichts als überfüllte Straßen, fiese Verbrecher und drohende Regenschauer gibt. Der Punkt ist: Viele Brasilianer glauben das tatsächlich. Das mit den Staus stimmt noch am ehesten. Klar, das Land ist weder störungsfrei noch ungefährlich. Und es scheint auch nicht immer die Sonne. Aber die vor allem in den konsumfreudigen Mittel- und Oberschichten verbreitete Angst vor Chaos, Gewalt und der nächsten Schlechtwetterfront steht in keinem Verhältnis zu den realen Bedingungen, in denen diese Schichten leben. Die Realität scheint für viele dieser Menschen das zu sein, was TV Globo bringt.

TV Globo hat Zuschauerzahlen wie in den USA nur der Super Bowl

91 Millionen Brasilianer, knapp die Hälfte der Bevölkerung, schalten den Sender nach Informationen des Wirtschaftsmagazins The Economist jeden Tag ein. Das sind Zuschauerzahlen, die in den USA nur einmal im Jahr bei der Super Bowl erreicht werden, wie jüngst auch die New York Times verwundert feststellte. Den gängigen Klischees zufolge ist Brasilien das Land der Strände, des Fußballs und der Caipirinhas. Klischees sind selten ganz falsch und noch seltener ganz richtig. Zunächst einmal ist Brasilien das Land der Fernseher.

Man muss schon zum Sternekoch gehen, um ein Restaurant zu finden, in dem nicht mindestens zwei, drei Apparate durchflimmern. Die Taxifahrer in Rio schauen Polizeireport, Fußball und Telenovelas - während der Fahrt. Und selbst in den hintersten Winkeln des Amazonas, wo die Leute in Pfahlhütten leben, mit Pfeilen jagen und ihre Notdurft in der Natur verrichten, staunt man über Satellitenschüsseln und Flachbildschirme.

Eine Studie des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) kam bereits 2011 zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Haushalte mit mindestens einem Fernseher (96,9 Prozent) höher ist als die mit mindestens einem Kühlschrank (95,8). Seit 2011 ist der Fernsehkonsum aber noch einmal deutlich gestiegen. Allein im ersten Halbjahr 2015 sind im Vergleich zum Vorjahreszeitraum durchschnittlich 900 000 Zuschauer pro Tag dazugekommen. Und im Vorjahr war bekanntlich Fußball-WM.

Den mit Abstand größten Teil dieses gigantischen Fernsehmarktes bedient das Globo-Netzwerk mit Sitz in Rio de Janeiro. Obwohl der Marktanteil seit Jahren sinkt, weil andere Sender noch viel schneller zulegen, liegt er weiterhin bei einem Drittel. Das liegt auch an seiner Omnipräsenz im öffentlichen Raum. In den Wartezimmern jedes Amtes, jedes Arztes und an jedem Flughafenterminal laufen die Nachrichten und Unterhaltungsprogramme von TV Globo. Der immense Einfluss auf die öffentliche Meinung ist vielfach beschrieben und kritisiert worden.

Der britische Filmemacher Simon Hartog hat bereits in den Neunzigern eine Dokumentation über die politische Macht des 2003 verstorbenen Globo-Gründers Roberto Marinho gedreht, inklusive dessen aktiver Unterstützung der Militärdiktatur (1964-1985). Der Film heißt Jenseits von Citizen Kane und wurde in Brasilien umgehend zensiert.

Erst 2013 entschuldigte sich Globo für seine Zusammenarbeit mit der Militärjunta, politisch unabhängig ist der Konzern aber bis heute nicht. Inzwischen führen die drei Kinder Marinhos die Geschäfte, zu dem auch die große Tageszeitung O Globo gehört. Nahezu alles, was dort steht und was TV Globo in seiner wichtigsten Nachrichtensendung Jornal Nacional um 20.30 Uhr bringt, lässt sich so zusammenfassen: Brasilien steckt in seiner schlimmsten Krise und die linksgerichtete Regierung von Dilma Rousseff ist an allem schuld.

Selbstverständlich kann man TV Globo auch aus dem Weg gehen, herkömmliche brasilianische Fernsehpakete umfassen etwa 125 Kanäle. Darunter sind aber fünf reine Sportsender und zwölf erstaunlich erfolgreiche Cartoonsender (da funktioniert die brasilianische Nachwuchsförderung). Dazu kommen unzählige Teleshopping-Kanäle und etwa zwanzig Sender mit explizit religiösen Kernbotschaften.

Der größte Konkurrent von TV Globo ist ein Bibel-Sender

Der größte Konkurrent von TV Globo ist der Sender TV Record mit einem Marktanteil von etwa 14 Prozent, Tendenz steigend. Die älteste Fernsehanstalt Brasiliens wurde Ende der Achtziger von dem Multimillionär Edir Macedo übernommen, dem Gründer und selbsternannten Bischof der evangelikalen Pfingstkirche "Igreja Universal do Reino de Deus". Das Programm besteht vor allem aus moralischer Lehrmeisterei, es ist offen schwulenfeindlich und tendenziell anti-islamistisch. Macedo selbst würde sagen: anti-satanistisch.

Die gegenwärtige Quotenmaschine von Record ist die Bibelsoap Os Dez Mandamentos (Die Zehn Gebote). In 150 Folgen geht es um Herzschmerz, Mord und Intrigen im Hause Mose. Die Erfolgsserie vereint traditionelle Elemente der in Brasilien äußerst beliebten Telenovelas und die wachsende Prüderie in der einstmals sehr toleranten brasilianischen Gesellschaft. Religiöse Sender wie TV Record oder TV Band und Rede TV reagieren aber nicht nur auf den Rechtsruck des Landes, sie fördern ihn vor allem. Auch hier folgt die Wirklichkeit der virtuellen Realität.

TV Globo hat 2015 mit seiner parallel zu Mose ausgestrahlten und gewohnt lasziven Primetime-Serie Babilonia ein selten erlebtes Quotendesaster erlitten. Eiligst wurden lesbische Küsse, Prostituierte und Transsexuelle aus dem Drehbuch gestrichen. Vergeblich. Im August wurde Babilonia mangels Interesse abgesetzt.

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Quelle:
SZ vom 27.11.2015/jobr
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