ARD-Serie "Die Stadt und die Macht":Na bitte, es geht doch mit den deutschen Serien

Die Stadt und die Macht, Folge 2

Anwältin Susanne Kröhmer (Anna Loos) will Bürgermeisterin werden.

(Foto: ARD/Frédéric Batier)

Der hervorragend besetzte Sechsteiler "Die Stadt und die Macht" ist Psychodrama, Polit-Thriller und Entwicklungsgeschichte in einem.

TV-Kritik von Evelyn Roll

Was zur Vermeidung von Weglaufen- oder vor-Langeweile-ohnmächtig-werden-müssen jetzt mal wirklich auf den Index muss, sind Sätze wie: "Deutschland kann keine Serien." Oder das mit dem horizontalen Erzählen: "Sie wissen ja, horizontales Erzählen funktioniert nicht bei unseren auf die Alten und Prekären fixierten Fernsehanstalten."

Nicht falsch verstehen. Es ist nach wie vor vollkommen in Ordnung, ein Gespräch mit Smalltalk zu eröffnen, Fußball ist immer super für anschlussfähige Kommunikation. Auch: "Welche Serie schauen Sie gerade?" ist wirklich okay, nicht nur für Anfänger, sondern auf der ganzen Welt. Der Serien-Diskurs bringt zwar keinen Distinktionsgewinn mehr, aber einen möglichen Einstieg in einen interessanten Gedankenaustausch allemal.

Nur dieser aufgeblasene, nachgesagte Deutschland-Bashing-Quatsch in Profi-Drehbuchautor-Sprache von "Arcs und Gegenarcs" und "in Deutschland nicht horizontal erzählen können" ist fast noch schlimmer als die allgegenwärtige Party-Verstärkung des Rechthaber-Gebrülls zum "Wir schaffen das".

Eine Politikerin strebt nach Höherem - das erinnert an "Borgen", ist aber besser erzählt

Es beleidigt im Übrigen auch Edgar Reitz und Wolfgang Petersen, die in ihren Kurzserien Heimat und Das Boot auf Weltklasseniveau über die lange Strecke so erzählt haben, dass man es horizontal hätte nennen können, wenn dieses Wort damals schon in Mode gewesen wäre. Es beleidigt und ignoriert posthum Wolfgang Menge (Ein Herz und eine Seele) und Helmut Dietl, aber auch gegenwärtig Philipp Kadelbach und Stefan Kolditz (Unsere Mütter, unsere Väter), und vor allem: Friedemann Fromm (Die Wölfe und Weissensee).

Jetzt hat Fromm diese kleine, große Serie für die ARD gedreht. Klugerweise haben alle nach dem von Minderwertigkeitskomplexen getriebenen Maulhelden-Desaster "Das ist das deutsche Breaking Bad" für die sehr schöne Serie Morgen hör ich auf darauf verzichtet, Die Stadt und die Macht als "das deutsche Borgen" anzukündigen. Obwohl eine Politikerin Dreh- und Mittelpunkt einer Geschichte ist, die im Übrigen sogar noch einen Tick besser erzählt ist als Borgen.

Wir haben hier drei kunstvoll ineinander montierte Genres in einem: ein Psycho-Drama samt geheimnisvoll durch die Luft fliegender verschmorter Puppe und Auf-dröseln eines psychosomatisierten Familiengeheimnisses, einen politischen Intrigenthriller und Krimi, dazu die dramatisch emotionale Entwicklungsgeschichte der Anwältin Susanne Kröhmer (sehr großartig gespielt von Anna Loos).

Fast aus Versehen schubst sie sich in einer Fraktionssitzung ganz nach vorne in die Politik, kandidiert also für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und vollendet so die politischen Träume ihres Vaters Karl-Heinz Kröhmer (Thomas Thieme, der ja immer wunderbar ist). Burghart Klaußner, noch ein toller Schauspieler also, spielt den Regierenden Bürgermeister Manfred Degenhardt, Vaters Mit- und Gegenspieler in diesem Selbstbedienungsladen, der die Berliner Landespolitik ja leider auch in der Realität ist.

Wiedererkennbarkeit, Tempo und Zug

Dann gibt es da in dieser die Berliner Realitäten sehr schön abbildenden und in Ost wie West aus verschiedenen schlechten Gründen gewachsenen Uns-gehört-die-Stadt-Welt noch einen undurchsichtig mit allen verbandelten Bauunternehmer, der außerdem in Wirklichkeit.

Aber das wird nicht verraten, weil wir auch mal "Spoileralarm" hinschreiben wollen.

Große Schauspielkunst also, auch mit der wirklich hinreißenden und modisch sehr genau aufgehipsterten Figur des von Martin Brambach gespielten Politberaters Georg Lassnitz, der vorführt, dass Komisches nicht peinlich sein muss und (Achtung, Insider) möglicher- und wunderbarerweise an den Produzenten Nico Hofmann erinnert.

Berlin ist überall

Nach der TV-Ausstrahlung ist Die Stadt und die Macht in der ARD-Mediathek zu sehen - und von Freitag an auch bei Netflix, einem jener Streamingdienste, die mit Sendern wie der ARD um Zuschauer konkurrieren. Es ist das erste Mal, dass ein öffentlich-rechtliches Produkt dort gleich nach der Ausstrahlung verfügbar ist. Die Idee dazu hatte Michael Lehmann, Produktionschef von Studio Hamburg: "Wir freuen uns, wenn wir das Programm so vielen Zuschauern wie möglich anbieten können. Manche Zuschauer nehmen ja am klassischen Fernsehen gar nicht mehr teil." Bei der ARD glaubt man nicht, dass das eine dem anderen Zuschauer wegnimmt, im Gegenteil: Die Verfügbarkeit an mehreren Stellen bringe Aufmerksamkeit, die befruchtend wirke, sagt Gebhard Henke, "Executive Producer" bei der ARD. Davon wird neben dem Publikum wohl vor allem einer profitieren: In der Mediathek gibt es die Serie 30 Tage, bei Netflix bis 2018. Karoline Beisel

Rasant erzählt und gefilmt ist das, ein bisschen viel durch Fensterscheiben vielleicht, aber geschenkt. Zur Freude aller Berlin-Liebhaber funktionieren die Zwischenschnitte statt mit Schwarzblende mit schnell geschnittenen Stadtansichten wie im Vorspann der jüngsten, Berliner Homeland-Staffel, auf die die Standortscouts vom Medienboard ja so schrecklich stolz sind. Kann sein, dass diese Schnitte auch die Werbefreihalter für den erhofften Auslandsverkauf sind. Ist aber auch egal, weil sie der Geschichte Struktur geben, Wiedererkennbarkeit, Tempo und Zug.

Na bitte, geht doch, will man also jetzt schon zum mindestens fünften Mal in den letzten Monaten schreiben. Es ist Zeit, mit dem Seriengejammer aufzuhören und zur Kenntnis zu nehmen: Ausgerechnet das öffentlich-rechtliche Zwangs-Bezahlfernsehen traut sich, gute Leute an herausragenden deutschen Serien arbeiten zu lassen. Auch wenn sie dann wieder nicht die halbe Nation erreichen, dafür aber möglicherweise den für die Zukunft des gesamten Systems relevanten, jungen, serienaffinen Teil des Publikums, der gar kein Fernsehgerät mehr besitzt, sondern streamt.

Ja, stimmt, ist auch schon oft gesagt worden: Die amerikanischen Serien sind auch eher selten Massenerfolge. Breaking Bad brauchte Jahre bis zum Durchbruch, Fargo schauten zunächst deutlich weniger als zwei Millionen Menschen, auch Homeland lag kaum darüber, Quoten, die bisher im deutschen Fernsehen schnell zur Absetzung geführt hätten. Möglicherweise ist das Potenzial für eine anspruchsvolle, ambitionierte Fernsehserie auch bei uns nicht höher. Wenn die dann interessant und gut genug ist für den internationalen Markt wie Deutschland 83, muss es trotzdem kein Verlustgeschäft sein.

Es hat also ein bisschen gedauert, aber es funktioniert: Allein die Existenz von Serien als kulturell anerkannte Alternative zum ganz normalen TV-Schwachsinn und das Gespräch darüber erzwingt, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen nicht länger hinter den vermeintlichen Gesetzen des Marktes und der Quote verstecken. Das ist eine gute Nachricht. Und weil es ein bisschen gedauert hat, kommt die zweite Serienrevolution in Deutschland gleich mit der ersten: Die Fernsehstrukturen werden aufgelöst zugunsten von Streamingdiensten und Internetkonsum ().

Man kann also und sollte auch alle sechs Folgen von Die Stadt und die Macht hintereinanderweg schauen, oder auf zwei Sitzungen verteilt. Bingen liegt plötzlich nicht mehr nur am Rhein und bei Netflix, sondern jetzt auch mal in der Mediathek der ARD. Herzlichen Glückwunsch.

Die Stadt und die Macht, ARD, Dienstag bis Donnerstag in Doppelfolgen, 20.15 Uhr.

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