ZDF-Film "Der Andere":Die große Krise in einer kleinen Welt

Film 'Der Andere'

Rentner Willi (Jesper Christensen, l.) hat den Flüchtling Nama (Nama Traore, r.) bei sich aufgenommen.

(Foto: Anne Wilk/ZDF)

Feo Aladag schildert gern große Tragödien in kleinen Details. In ihrem ersten Fernsehfilm, "Der Andere", wird ein Flüchtling Teil einer deutschen Familie. Ein Treffen.

Von Verena Mayer, Berlin

Die Frau ist Regisseurin und Produzentin, ihr erster Film war gleich für den Auslands-Oscar im Gespräch. Feo Aladag heißt sie. Sie hat in Afghanistan über den Krieg dort gedreht. Jetzt aber sitzt sie in einem Berliner Café und spricht die meiste Zeit über ihre Familie. Sie berichtet, welches Kind gerade zahnt und welches durchschläft, zeigt auf dem Handy Fotos ihrer Mutter. Lange fällt kein Wort über ihre Arbeit oder die Firma, nicht über Politik oder die Weltlage, die Ausgangspunkt aller ihrer Filme ist. Auch in ihrem neuen Fernsehfilm spielt eine unsichere Lage wieder eine Rolle. Jetzt ist es die Flüchtlingskrise. Der Film handelt von Afrikanern, die sich als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Europa durchschlagen.

Seit ihrem ersten Film gilt Aladag, 44, als Expertin dafür, im ganz Großen das sehr Kleine aufzuspüren. 2010 kam Die Fremde heraus, ein Film über eine junge Deutsch-Türkin, die ein selbstbestimmtes Leben führen will und lieben, wen sie will. Doch ihre Familie lässt das nicht zu, und irgendwann planen ihr Vater und die Brüder, die angeblich lädierte Familienehre durch ein Verbrechen wiederherzustellen. Der Film ist an die reale Geschichte der Berlinerin Hatun Sürücü angelehnt, die 2005 von einem ihrer Brüder erschossen wurde. Ein sogenannter Ehrenmord, mitten in der Hauptstadt.

Aladag kann sich gut an die Grundsatzdiskussion über Integration erinnern, die damals in Deutschland geführt wurde. Sie saß jeden Tag im Prozess gegen drei Brüder, der damit endete, dass zwei von ihnen aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden und eine Schwester im Gerichtssaal das Victory-Zeichen machte. Doch nichts davon ist in ihrem Film zu sehen. Aladag folgt den Schwestern, Brüdern und Eltern der jungen Frau in ihrem Alltag und bleibt dort, wo es am ehesten Erklärungen gibt: am Ort der Tragödie, in der Familie.

Aladags größtes Anliegen: "so zu erzählen, dass man erlebt, wie ein Mensch gefangen ist in Systemen"

Es sei ihr größtes Anliegen gewesen, "so zu erzählen, dass man erlebt, wie ein Mensch gefangen ist in Systemen", sagt Aladag. Noch heute würde sie auf den Film angesprochen, kommen Leute nach einer Vorführung in Tränen aufgelöst zu ihr und wollen über ihre eigene Familie reden.

Ihr erster Film für das Fernsehen erzählt wieder von Verwerfungen, die das Weltgeschehen im Kosmos der Familie hinterlässt. Der Andere - eine Familiengeschichte handelt von einem Jungen namens Nama, der als Flüchtling von Mali nach Deutschland kommt. Aladag buchstabiert zuerst die Flüchtlingskrise durch, folgt Polizisten, die versuchen, an Grenzübergängen und in Erstaufnahmestellen Ordnung in das Chaos zu bringen. Man sieht Turnhallen mit Feldbetten, überfüllte Hostels, Überforderung überall. Doch Aladag löst sich bald von diesen klischeehaften Szenen und bringt den jungen Afrikaner mit einem alten Deutschen zusammen, der ihn beim Stehlen erwischt hat. Der nimmt den Jungen in seinem Haus auf, erst aus Mitleid, dann als Ersatz für den Sohn, der sich von ihm abgewendet hat.

Die eigentliche Geschichte ist die einer deutschen Familie

Aladag zeigt die beiden, wie sie essen und auf der Couch sitzen, wie sie aufs Amt gehen und versuchen, mit dem Sohn des Alten in Kontakt zu treten. So wird die eigentliche Geschichte freigelegt, es ist die einer deutschen Familie. Was sie zusammenhält und was sie auseinanderbringt.

Dass dies funktioniert, ist vor allem dem Darsteller des jungen Afrikaners zu danken, Nama Traore. Der 19-Jährige hat Mali verlassen. Seine Eltern sind tot, über die Sahara schlug er sich nach Algerien und Libyen durch, von dort vier Nächte auf einem Boot nach Sizilien. Aladag lernte ihn über einen Berliner Verein kennen, der sich um jugendliche Flüchtlinge kümmert, sie arbeitet oft mit Laiendarstellern. Zuletzt in Afghanistan, wo sie einen Film über den deutschen Bundeswehreinsatz drehte und darüber, wie sich die Präsenz der Soldaten auf den Alltag in einem afghanischen Dorf auswirkt.

Vor allem die Szenen über seine afrikanische Familie seien schwierig gewesen, erzählt Aladag. Ausgebildete Schauspieler wüssten, wie man sich emotionalen Situationen aussetzt, bei Laien sei das immer "eine feine Linie". Im Film sieht man Traore in aller Verlorenheit bei dem Versuch, seine Würde zu bewahren. Aladag berichtet dies in einem österreichischen Akzent, schnell geht es wieder um die Familie.

Die Arbeit mit ihrem Afghanistan-Film "Zwischen den Welten" hat Aladag am meisten geprägt

Sie kommt aus Wien und zwar aus jener gutbürgerlichen Gesellschaftsschicht, in der Väter nur "der Papi" heißen. Aladags Papi war Architekt und fand, dass eine Frau, die etwas im Kopf hat, nicht Schauspiel studieren solle. Aladag tat es trotzdem, spielte erst in Filmen, rutschte später ins Regiefach. Irgendwann wurde ihr Österreich zu eng, den neuen österreichischen Film gab es noch nicht, und Leute wie Michael Haneke waren längst im Ausland. Aladag ging nach Deutschland, wo sie im Jahr 2008 mit ihrem Film Die Fremde einen globalen Erfolg landete, der sogar für eine Oscarnominierung vorgeschlagen wurde. Sibel Kekilli spielte die Hauptrolle.

Und welche Arbeit hat sie am meisten geprägt? Das sei schon Zwischen Welten, der Afghanistan-Film im Jahr 2013, gewesen, sagt Aladag. Allein wegen der schwierigen Dreharbeiten dort, im Staub und in der Hitze, beschützt von der afghanischen Polizei. Wie sie sich als zarte blonde Frau erst Respekt verschaffen musste, bei paschtunischen Familienclans genauso wie bei der deutschen Bundeswehr, die das Projekt unterstützte. Aber auch, weil ein solcher Film im heutigen Afghanistan undenkbar wäre. Es schmerze sie sehr, wenn sie jetzt Bilder aus Kabul oder Kundus sehe. Denn es scheint, dass alle Anstrengungen, Normalität und Alltag in dieses Land zu bringen, am Ende wohl umsonst waren.

Der Andere, ZDF, 20.15 Uhr.

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