Docutainment-Formate:Verfilmte Paralleljustiz

R. Kelly

Der Sänger R. Kelly bei einem Auftritt im Jahr 2013: Wegen der neuen Anschuldigungen wollen viele Menschen nun seine Deutschland-Konzerte verhindern.

(Foto: dpa)
  • Zuletzt mehren sich in den USA Dokumentarfilme und -serien, die für Aufregung und teils auch ernsthafte Konsequenzen sorgen.
  • Im Fall des Sängers R. Kelly wurden wegen der Aussagen in der Serie Surviving R. Kelly neue Ermittlungen wegen Missbrauchs aufgenommen.
  • Dokumentarfilme und -serien wie Surviving R. Kelly, Leaving Neverland oder The Jinx werden in den USA aufgrund der Dramatisierung und Zuspitzung auch "Docudrama" genannt.

Von Jürgen Schmieder

Es sprechen ja gerade sehr viele Leute über Robert Sylvester Kelly, besser bekannt unter dem Künstlernamen R. Kelly, und es geht in diesen Gesprächen nicht um seine Musik, sondern um die Auswirkungen der Dokumentarserie Surviving R. Kelly. Wer sie gesehen oder auch nur davon gehört hat, kennt jetzt die Vorwürfe der Frauen, die darin erzählen, wie der Star sie in seine Villa gelockt, gefangen gehalten, gequält und missbraucht habe. Der weiß, dass Kelly Kinderpornografie besitzen und auch produziert haben soll.

Nur: R. Kelly ist im Jahr 2008 von all diesen Vorwürfen, die durch die Doku wieder laut werden, freigesprochen worden. Kelly selbst hat vor ein paar Monaten in einem 19-Minuten-Lied mit dem Titel "I Admit" jegliche Schuld von sich gewiesen und die Vorwürfe als Verschwörung der Neider bezeichnet. Surviving R. Kelly berichtet aus der Sicht der Opfer, lenkt den Zuschauer. Aber sollte nicht die Unschuldsvermutung gelten, solange es kein Urteil gibt?

R. Kelly feierte kürzlich im Chicagoer Nachtclub V75 seinen 52. Geburtstag und teilte den Leuten mit, frei übersetzt: "Ihr Hurensöhne wisst gar nicht, dass heute mein verdammter Geburtstag ist - und dass es mich einen Scheißdreck interessiert, was da gerade los ist."

Es hat zuletzt einige Dokumentarfilme und -serien gegeben, die für Aufregung und teils auch ernsthafte Konsequenzen gesorgt haben. Und es lohnt, sich intensiver mit damit zu beschäftigen. The Jinx: The Life and Deaths of Robert Durst auf dem Pay-TV-Kanal HBO zum Beispiel zeigt, wie der Millionär Robert Durst während einer Drehpause bei eingeschaltetem Mikrofon offensichtlich einige Morde gesteht. "Jetzt haben sie dich erwischt", sagt er. "Was für eine Katastrophe. Was zur Hölle habe ich getan? Sie alle umgebracht, natürlich." Derzeit muss er sich wegen dieser Verbrechen vor Gericht verantworten - er war am Abend vor der Ausstrahlung der letzten Folge verhaftet worden.

Oder die beiden Filme Fyre: The Greatest Party That Never Happened und Fyre Fraud, die seit der vergangenen Woche auf Netflix und Hulu zu sehen sind. Sie beschäftigen sich mit dem gescheiterten "Fyre Festival" auf den Bahamas im Jahr 2017 und erheben heftige Betrugsvorwürfe gegen den mittlerweile zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Veranstalter Billy McFarland. Die Besitzer eines Restaurants, die wegen des Festivals ihre kompletten Ersparnisse verloren haben, bekamen innerhalb weniger Tage nach der Ausstrahlung der beiden Produktionen über das Internetportal Gofundme Spenden in Höhe von mehr als 160 000 Dollar.

Und an diesem Wochenende wird auf dem Sundance Film Festival im US-Bundesstaat Utah der Dokumentarfilm Leaving Neverland zum ersten Mal gezeigt. Es geht darin um Wade Robson und James Safechuck, die beide behaupten, als Kinder von Michael Jackson missbraucht worden zu sein. "Es begann mit Liebkosungen, es folgten Zungenküsse, die zu Oralsex führten", sagt Robson, er habe damals aus Furcht gelogen und eine Beziehung geleugnet: "Es war mir nicht möglich, die Wahrheit zu sagen." Jacksons Nachkommen haben erfolglos versucht, die Aufführung zu verhindern, und sie haben ein Statement veröffentlicht, in dem sie den Film als "gruselige Produktion und erbärmlichen Versuch, aus Michael Jackson Kapital zu schlagen" bezeichnen. Sicher ist: Es werden bald auch wieder sehr viele Menschen über Michael Jackson reden.

Die Regisseure steuern auf ein Ziel hin: die Darstellung eines Monsters

Was all diese Werke eint: Sie kommen zunächst einmal daher wie objektive, unvoreingenommene Projekte, doch das sind sie nicht. Wer zum Beispiel Surviving R. Kelly ein zweites, drittes, viertes Mal betrachtet, der dürfte bemerken, wie die Regisseure Nigel Bellis und Astral Finnie die Zuschauer emotional steuern und ihn auf das Ziel dieser Serie konditionieren: die Darstellung eines Monsters. Am Ende, da werden die Frauen gefragt, was sie R. Kelly sagen würden, sollte ihm diese Serie gezeigt werden.

Da sitzen Frauen, die über die schlimmsten Momente in ihrem Leben berichtet haben, vor einem schwarzen Hintergrund, es wird ihnen Zeit gegeben zum Nachdenken. Eine sagt: "Wie würdest du dich fühlen, wenn jemand deinen Kindern antun würdest, was du mir angetan hast?" Eine andere: "Ich hoffe, dass er Hilfe bekommt." Lisa Van Allen, die nach eigenen Angaben an der Produktion eines Sexvideos mit einem damals 14-jährigen Mädchen beteiligt gewesen ist, sagt mit Tränen in den Augen: "Er entwickelt sich zu einem immer schlimmeren Wesen. Ich hoffe, dass er endlich aufhört, diese Mädchen zu verletzen."

Die Anklägerinnen bekommen eine öffentliche Plattform, die ihnen bislang nicht gewährt worden ist. Sie erhalten einen Raum, in dem sie sich geborgen fühlen dürfen. Sie können ihre Geschichte, ihre Sicht der Dinge erzählen, ohne dass sogleich unangenehme Fragen gestellt oder sie gar verunglimpft werden - Victim Shaming, das Diskreditieren von Opfern, gehört zu den wichtigsten und moralisch verwerflichsten Strategien von Strafverteidigern und war kürzlich bei der Gerichtsverhandlung gegen den US-Schauspieler Bill Cosby eindrucksvoll zu beobachten. Die Frauen in Surviving R. Kelly müssen sich nicht rechtfertigen oder verteidigen, sie dürfen: erzählen. Nicht zuletzt die "Me Too"-Bewegung hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass Menschen in dieser Situation jemand zuhört. Jemand glaubt. Nicht mit den Frauen in der Dokumentation zu fühlen, ist nahezu unmöglich. Künstlerinnen wie Lady Gaga, Celine Dion und Ciara, die mit Kelly zusammengearbeitet hatten, distanzieren sich nun von ihm, die Staatsanwaltschaften in den US-Bundesstaaten Illinois und Georgia haben neue Ermittlungen eingeleitet.

Es findet eine Art öffentliche Verhandlung statt, eine verfilmte Paralleljustiz

Dokumentarfilme und -serien wie Surviving R. Kelly, Leaving Neverland oder The Jinx werden in den USA aufgrund der Dramatisierung und Zuspitzung auch "Docudrama" genannt, die cineastischen Kniffe der Regisseure sind keineswegs verwerflich. Die erfolgreichsten Dokumentarfilmer - Robert J. Flaherty etwa (Nanook of the North, 1922), Leni Riefenstahl (Triumph des Willens, 1935) oder Michael Moore (Bowling for Columbine, 2002) - haben in ihren Werken inszeniert, bisweilen auch ideologisiert. Die Zuschauer sollten das wissen, und sie sollten wissen, dass die Aussagen der Frauen in Surviving R. Kelly nicht vor Gericht zulässig sind und die Staatsanwaltschaften in Georgia und Illinois deshalb mögliche Zeugen gebeten hat, sich zu melden und offizielle Aussagen zu machen. Die Leute sollten auch wissen, dass Elliot Tebele, Gründer der erfolgreichen Social-Media-Seite "FuckJerry", beim "Fyre Festival" für die Vermarktung auf sozialen Medien verantwortlich war - und dass er nun einer der Produzenten des Netflix-Films Fyre: The Greatest Party That Never Happened ist.

Es ist wichtig, dass es diese Dokumentarfilme und -serien gibt, als Plattformen für Opfer, als Anstoß für Debatten, als Auslöser für Ermittlungen. Diese Werke allerdings erheben jedoch bisweilen nicht nur die Anklage, es findet vielmehr eine Art öffentliche Verhandlung statt, eine verfilmte Paralleljustiz mit oftmals sehr deutlich ausgesprochenen Urteilen - und sie verführen den Zuschauer aufgrund der Dramaturgie dazu, dieses Urteil zu übernehmen, nicht selten verbunden mit dem Hinweis, dass sich Promis ohnehin durchs Justizsystem schlängeln würden, ohne jemals ernsthaft zur Verantwortung gezogen zu werden. Was im Fall von R. Kelly wirklich geschehen ist, müssen allerdings Ermittler klären, die wegen der Aussagen in der Serie ihre Arbeit aufgenommen haben, und es wird irgendwann zu einem Ergebnis und womöglich einem Urteil kommen.

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