Süddeutsche Zeitung

Fernsehen:Nie ist Fernsehen so sehr Tapete wie an Silvester

Die Grundfrage am Silvesterabend lautet: Wo geht man hin, wenn es überall furchtbar ist?

Von Hans Hoff

Mit der Frage, warum Menschen an Silvester den Fernseher anschalten und warum es da drin dann große Shows gibt, verhält es sich ein bisschen wie mit der Henne-Ei-Problematik. Niemand weiß wirklich, was zuerst da war: der Zuschauer oder die Show. Schauen die Menschen das, was geboten wird, weil sie es wirklich wollen oder einfach nur, weil es da ist und Alternativen fehlen? Und wird das, was die Sender an Silvester abspulen, aus freien Stücken und tiefster Überzeugung produziert, um den Menschen zu verführen, oder nur, weil man vor den Empfangsgeräten Menschen mit entsprechendem Bedarf vermutet? Wie man es dreht, es ist kompliziert.

Es gibt ja die Theorie, dass niemand an Silvester freiwillig fern sieht, dass eigentlich alle lieber unter Menschen wären, Spaß hätten, aber entweder nicht eingeladen wurden oder es schlicht an der Motivation fehlt, sich von den Sofakissen zu lösen. Niemand entscheidet sich demnach in vollem Bewusstsein für das Angebot der großen Sender. Oder kennt irgendjemand irgendwen, der sich in seiner Hör zu oder in seinem Gong angekreuzt hat, dass er zum Jahresende auf keinen Fall verpassen möchte, wie die ARD die traurigen Reste des Musikantenstadls unter dem Tarnnamen "Die Silvestershow mit Jörg Pilawa" verscherbelt? Was gibt es da, das man keinesfalls versäumen darf? Die großen Auftritte der Amigos, von Roberto Blanco, von Bernhard Brink? Oder kann es jemand gar nicht erwarten, die Performance von Yared Dibaba und den Schlickrutschern zu erleben?

Was ist bei solch einem Angebot die normale Reaktion eines Zuschauers? Richtig, der Griff zur Fernbedienung. Rüber ins Zweite. Dort wartet die Rettung, die möglicherweise keine ist, weil sie in Form von Johannes B. Kerner und Andrea Kiewel daherkommt und Künstler auf dem Zettel hat, die man sonst kaum mal erlebt wie die Höhner, die Spider Murphy Gang oder Oli P.. Und dann flitzt als Ich-mach-für-Geld-alles-Mann noch Lutz van der Horst durch die Menge der Partybiester am Brandenburger Tor und reißt den einen oder anderen Witz.

Im Prinzip wirkt das Silvesterangebot wie eine einzige Werbung fürs Bezahlfernsehen

Ein bisschen muss sich das für den Durchschnittszuschauer anfühlen, als habe der Erfinder der Zwickmühle just ihn zum Versuchskaninchen erkoren. Die Grundfrage am Silvesterabend lautet: Wo geht man hin, wenn es überall furchtbar ist?

Zu den Privaten. Na klar. Etwas Besseres als den Quatsch finden wir überall, hätten sich wohl die Bremer Stadtmusikanten gesagt und wären, zack, in Olli Geissens Beliebigkeitsfalle gerannt. Die heißt natürlich nicht Beliebigkeitsfalle, sondern "Die ultimative Chart Show" und flutscht in der gleitcremigen Geissen-Art durch die beliebtesten deutschen Singles der letzten 40 Jahre. Mit von der Party sind unter anderen Peter Maffay, Adel Tawil und Kerstin Ott. Und natürlich die zaubernden Ehrlich Brothers, ohne deren Anwesenheit ein RTL-Showprogramm ja quasi ungültig ist.

Sat.1 hat sich längst ergeben und zeigt kostengünstig bereits gesendete Sketch-Comedy-Formate, während Pro Sieben ein paar Filmschinken erneut in die Auslage presst.

Nicht mal für die genaue Uhrzeit braucht man das Fernsehen mehr

Im Prinzip wirkt das Silvesterangebot wie eine einzige Werbung fürs Bezahlfernsehen. Spricht man Menschen aus Sendern auf diese kollektive Qualitätsverweigerung an, dann zucken sie meist mit den Schultern und reden sich raus mit dem Argument, dass es der Zuschauer nicht anders wolle und dass ja an Silvester eh niemand hinschaut.

Vorbei die Zeiten, da in den Sechzigerjahren alle zwei Jahre zu Silvester "Schimpf vor Zwölf" lief, der kabarettistische Jahresrückblick der Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Bissig, aktuell, lange vorbei.

Vorbei auch die Zeiten, da das Fernsehen in Ermangelung wirklich genau gehender Uhren spätestens kurz vor Zwölf angeschaltet und als Zeitreferenz genutzt wurde. In Zeiten digitaler Allgegenwärtigkeit von Chronometern ist das völlig überflüssig geworden.

Fernsehen ist inzwischen nie mehr Tapete als am letzten Tag des Jahres, nie so egal wie an Silvester. Ob es Proteste gäbe, würde einfach die Show vom Vorjahr wiederholt, wäre herauszufinden. Das schonte zumindest die Etats der Sender und käme trotzdem dem Drang des Menschen zum Ritual nach. Schließlich ist die Zeit zwischen Heiligabend und dem neuen Jahr geprägt von ewiggleichen Abläufen.

Offenbar will in diesen Tagen niemand etwas Neues. Alle wollen nur das Bekannte. Zum 365. Mal "Sissi", alle drei Folgen, dann "Notting Hill" und die "Drei Nüsse..." und "Dinner for one". Nichts soll sich ändern zwischen den Jahren. Diese Zeit ist betonierte Gleichförmigkeit. Verändern kann man sich im neuen Jahr immer noch. Würde man das jetzt schon erledigen, bliebe nichts mehr übrig, was man um zwölf Uhr geloben könnte.

Das Dilemma, vom deutschen Fernsehen nicht mehr verführt zu werden

Aber es gibt noch das eine oder andere Mauseloch, einen Übergang ins Reich des Spannenden. Eines hat gerade Phil Collins eröffnet. In einem Tweet stand zu lesen, dass man seinen Hit "In The Air Tonight" am 31. Dezember genau um elf Uhr 56 Minuten und 40 Sekunden starten soll, dann werde das neue Jahr mit dem legendären Drumbreak eingeläutet. Das läutete sofort eine Diskussion ein, ob es sich da um die richtige Zeitangabe handelt, denn wer den Song auflegt, stellt fest, dass die Trommeln nach drei Minuten und 40 Sekunden erklingen, man als besser schon um elf Uhr 56 Minuten und 20 Sekunden beginnen sollte, um nicht gleich mit Verspätung ins neue Jahr zu starten.

Natürlich gab es prompt auch eine Alternative für den deutschen Haushalt. Die empfahl, um 23:58 Uhr und 44 Sekunden "Schrei nach Liebe" von den Ärzten aufzulegen. Dann sei das erste Wort, welches das neue Jahr 2018 höre, ein klares "Arschloch".

Aber selbst für jene, die es gerne etwas wilder haben und trotzdem beim vertrauten Fernseher bleiben möchten, gibt es eine würdige Alternative, das alte Jahr zu verabschieden. Bei 3sat läuft nämlich in der letzten Stunde vor Mitternacht die Aufzeichnung eines Rammstein-Konzerts von 2010. Da spielen die Brachialrocker als letzten Titel einen Song, der getrost als Gegenentwurf zu all dem Silvesterschmus der anderen Sender gewertet werden kann. Er heißt "Pussy", ist sehr explizit formuliert und endet mit Zeilen, die das Dilemma, vom deutschen Fernsehen nicht mehr verführt zu werden, schön beschreiben: "Take me now, oh, don't you see / I can't get laid in Germany".

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