Süddeutsche Zeitung

Fernsehen:Kontinent mit Fragezeichen

Ehen, Babys und Exotik: Eine Doku über das Erasmus-Austauschprogramm für Studenten, die auf Arte zu sehen ist, blickt ratlos auf die europäische Krise.

Von Paul Munzinger

Sitzen zwei junge Franzosen im Auto. Sagt der eine: "An meiner Schule gab es ein Auswahlverfahren, um nach Litauen zu gehen. Ich wurde genommen." Entgegnet der andere: "Ne, oder?" - "Doch, Mann." - "Wie viele wurden genommen?" - "Zwölf von 400. Der Hammer, oder?" - "Echt cool!"

Mit diesem Dialog beginnt der Dokumentarfilm Erasmus: Europa für alle? , den Arte an diesem Dienstagabend im Fernsehen und danach in der Mediathek zeigt, in fünf Sprachen. Und vor allem wegen der enthusiastischen Jungeuropäer aus der französischen Provinz hat der Zuschauer zu Anfang das Gefühl, der Film erzähle eine große Erfolgsgeschichte. Die Geschichte eines Kontinents, in dem die Grenzen nur noch der Orientierung dienen, und die Generation Erasmus zum Studieren nach Irland fährt, zum Voneinanderlernen nach Finnland und zum Verlieben nach Barcelona.

Vor vielleicht zehn Jahren hätte man diese Geschichte noch erzählen können. Heute geht das nicht mehr, am Vorabend einer Europawahl, die zum Triumph der Europagegner zu werden droht. Der Film der beiden griechischen Regisseure Angeliki Aristomenopoulos und Andreas Apostolidis heißt deshalb Erasmus: Europa für alle? Mit Betonung auf dem Fragezeichen. Neun Millionen Menschen hat das Erasmus-Programm seit 1987 ins europäische Ausland geschickt, mittlerweile neben Studierenden auch Auszubildende. Der Film erzählt von einer jungen Irin, für die Europa Ende der Achtzigerjahre so exotisch war, wie es heute Thailand wäre. Er erzählt von Erasmus-Ehen und Erasmus-Babys, die längst erwachsen sind. Er erzählt von zwei deutschen Studentinnen in Griechenland, von einer bulgarischen Ärztin in Paris und von einem angehenden französischen Industrieschweißer in Litauen.

Lässt sich so erklären, wie das große Fragezeichen über Europa gekommen ist? Kaum. Bei allen Unterschieden sind diese Geschichten, jede für sich, ein europäisches Ausrufezeichen. Also müssen die Experten ran, der britische Historiker Timothy Garton Ash vor allem, der doziert, Europa habe ein "Erfolgsproblem" und sei ein "elitäres Projekt". So entsteht der Eindruck, dass die Macher des Films am Ende selbst ratlos vor ihrer Ausgangsfrage stehen: Wie geht das zusammen - dass immer mehr Europäer die Grenzen überwinden und zugleich immer mehr sie sich zurückwünschen? Immerhin: Mit der Frage sind sie nicht allein.

Erasmus: Europa für alle?, Arte, 21.45 Uhr und jederzeit in der Mediathek.

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Quelle:
SZ vom 14.05.2019
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