Fernsehen international:24 Stunden Afghanistan

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Gefährliches Geschäft: Lotfullah Najafizada, 30 Jahre alt, leitet mit "Tolonews" den größten und einflussreichsten Nachrichtensender seines Landes. Treffen mit einem Routinier.

Von Tobias Matern

Familie Najafizada hatte einen Plan. Sie wollte sich heraushalten aus der Politik, nicht weil ihre Mitglieder keine politische Haltung haben, sondern um ihr Leben zu schützen. Der Vater, der Onkel - sie alle waren Zielscheibe der Herrschenden geworden, weil sie in der vorherigen Regierung gearbeitet hatten. Also entschieden sich die Najafizadas: Wir machen was mit Medien, gründen eine eigene Zeitung, berichten über die Menschen und ihre Kultur. Das tut niemandem weh.

Das war im Jahr 2002, Afghanistan erlebte wieder einmal eine Zeitenwende. Die USA wollten nach den Anschlägen vom 11. September Rache üben, jagten Osama bin Laden, weil die Taliban den Terrorführer nicht auslieferten. Schnell kollabierte das Regime der Islamisten, doch befriedet ist das Land bis heute nicht. Und die Arbeit von Journalisten ist am Hindukusch ein lebensbedrohliches Geschäft, wie auch der jüngst veröffentlichte Bericht der UN-Kulturorganisation Unesco unterstreicht: In Afghanistan werden demnach so viele Journalisten getötet wie sonst weltweit nur in Mexiko. "Zu glauben, dass wir uns mit dieser Arbeit etwas ausgesucht haben, dass sicher ist, war naiv", sagt Lotfullah Najafizada bei einem Gespräch in Berlin.

Längst ist er nicht mehr bei der von der Familie gegründeten Lokalzeitung, er ist zum Fernsehen gewechselt und hat den Sprung auf die große Bühne geschafft. 30 Jahre alt ist Lotfullah Najafizada, aber diese Zahl sagt wenig über ihn aus. Routiniert spricht Najafizada über die vergangenen sieben Jahre, die er als Chef des größten und einflussreichsten afghanischen Nachrichtensenders Tolonews verbracht hat, so als würde er kurz vor der Rente auf ein langes Berufsleben zurückblicken. Afghanen sind vom ewigen Konflikt in ihrem Land geprägt, da wirken 30-Jährige wie Lotfullah Najafizada schon mal deutlich älter - oder besser gesagt: lebensklüger.

Tolonews ist Teil einer neuen Freiheit und Vielfalt der Medien mit mehr als 70 Fernsehsendern

Der Senderchef verdrängt die Realität in seiner Heimat nicht. Er spricht über seine Trauer, er hat in den vergangenen Jahren bei Tolonews elf Kollegen verloren, er weiß, dass schon der Gang ins Büro eine Bedrohung darstellt. Aber er lässt sich auch nicht von der Tatsache einschüchtern, dass Journalisten Zielscheibe der Extremisten sind. Als Ende April die Reporter nach einem Anschlag in Kabul an den Ort des Geschehens kamen, um darüber zu berichteten, sprengte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft und tötete neun Journalisten. "In unserem Land sterben Zehntausende Zivilisten, darunter Ärzte und Journalisten. Wir wissen, dass unser Schmerz den Schmerz einer ganzen Nation widerspiegelt", sagt Najafizada. Aber mit dem Job aufhören? Für ihn ist das keine Option.

Der Gang ins Studio ist eine tägliche Bedrohung: Elf Kollegen sind bei Tolonews in den vergangenen Jahren gestorben. Ihre Kolleginnen und Kollegen senden weiter. Screenshots: Tolonews (Foto: N/A)

Es gibt wenig Positives über den Einsatz des Westens in Afghanistan zu sagen, der auch 17 Jahre nach dem Sturz der Taliban nicht beendet ist. Die Sicherheitslage ist katastrophal, Anschläge sind Teil des Alltags, die Regierung hat nur in etwa der Hälfte des Landes die volle Kontrolle und bietet den Islamisten aus ihrer Schwäche heraus eine Machtbeteiligung an.

Aber mindestens in zwei Bereichen lassen sich Erfolge vorweisen: Millionen Kinder gehen in die Schule, auch Mädchen. Das wäre zu Zeiten des Taliban-Regimes undenkbar gewesen. Und Afghanen können die neue Vielfalt einer weitgehend freien Medienlandschaft erkunden: Es gibt mehr als 70 Fernsehsender, Hunderte Radiostationen und Zeitungen. Die sozialen Netzwerke schaffen der jungen Generation in der konservativen Gesellschaft Spielräume. Smartphones sind in Städten wie Kabul und Herat Teil des Alltags, Facebook gilt als dynamisches Paralleluniversum, in dem Grenzen verschoben werden.

Lotfullah Najafizada, der in Kabul Betriebswirtschaftslehre studiert hat, gehört in seinem Land einer demografischen Minderheit an: Die meisten Afghanen sind jünger als er, jünger als 25 Jahre, und diese Generation "lässt sich Fortschritte wie Meinungsfreiheit und die sozialen Medien nicht mehr wegnehmen", ist sich der Tolonews-Chef sicher. Früher habe sein Großvater der ganzen Familie die politsche Lage erklärt und alle hätten seine Einschätzungen übernommen, heute beeinflusse seine jüngere Schwester die Familie anhand ihrer Facebook-Timeline. Die jungen Afghaninnen und Afghanen wollen etwas verändern, sie wollen die ewige Herrschaft der Gewalt brechen, sie wollen vor allem ihrem Ärger Luft machen.

Insgesamt kommen die afghanischen Fernsehsender auf etwa 200 Stunden Politikberichterstattung - pro Tag, allein Tolonews produziert davon 18 Stunden, ausschließlich werbefinanziert und nach eigenen Angaben zumindest kostendeckend.

Der Sender berichtet über weit mehr als die Anschläge auf Polizeistationen, Regierungsgebäude und Einkaufszentren. Die Geschichten werden von den Zuschauern häufig an den Sender herangetragen, erzählt Najafizada: etwa von frustrierten Regierungsangestellten, die seit Monaten auf ihr Gehalt warten. Oder von einem Kommandeur aus der nördlichen Provinz Kundus, der den Sender bittet, weiter über die Gefechte seiner Truppen gegen die Taliban zu berichten, weil mangelnde mediale Aufmerksamkeit dazu führt, dass die Regierung keinen Nachschub mehr schickt. Wenn sein Sender Zugang bekommt, schickt Najafizada die Reporter auch in die von den Taliban kontrollierten Gebiete: "Sie sind eine Realität, kontrollieren ganze Gebiete und Millionen Menschen, darüber müssen wir auch berichten", sagt er.

Routinierter Chef - und erst 30 Jahre alt: Lotfullah Najafizada. (Foto: Andrew Quilty)

Bei Tolonews kommen nach Angaben des Senderchefs jeden Monat etwa 3000 einfache Bürgerinnen und Bürger zu Wort - vor allem in den zahlreichen Talkshows, die von den Zuschauern so geliebt werden. Und auch für die selbst recherchierten Beiträge gibt Najafizada seinen gut 100 Reportern regelmäßig eine Devise mit auf den Weg zu ihren Recherchen: Erzählt die Geschichten der Afghanen, die noch nie zuvor ihre Geschichten erzählen durften. "Mindestens ein halbes Jahrhundert lang hatten die Leute hier keine Stimme. Seit 15 Jahren gibt es nun Plattformen wie Tolonews, und hier können sie ihre Sorgen und Nöte endlich loswerden."

Ein hochrangiges Mitglied der Regierung in Kabul hat Lotfullah Najafizada kürzlich in aller Offenheit seine Einschätzung erklärt: Wenn es die afghanischen Zeitungen, Radio- und Fernsehsender nicht gäbe, wäre im Land längst die Revolution ausgebrochen, hätte sich der Frust der Menschen über die vielen Entbehrungen, Fehler der Regierung und die mangelhafte Sicherheitslage ein anderes Ventil gesucht, wären Wutausbrüche auf der Straße programmiert. Es sind solche Einschätzungen, die Najafizada motivieren. Und die ihn nie daran zweifeln lassen, dass seine Familie damals trotz aller Widrigkeiten eine ganz gute Entscheidung getroffen hat.

© SZ vom 13.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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