Süddeutsche Zeitung

Fernsehen der Krimtataren:Im Exil verstummt

Die Krimtataren haben einen eigenen Sender. Seit der russischen Annexion der Halbinsel sendet er aus Kiew. Eigentlich.

Von Frank Nienhuysen

Das Fernsehstudio ist leer, aber das Virus ist unschuldig. Die Not war schon vorher da. ATR ist seit anderthalb Jahrzehnten der wichtigste TV-Sender für hunderttausende Krimtataren, er war überhaupt der größte gewesen auf der Krim, war beliebt, hatte etwa 200 Mitarbeiter. Dann traf ihn der erste Schlag. Russland annektierte die ukrainische Halbinsel, nahm ATR die Lizenz weg und drängte den Sender ins Exil. Die Redaktion zog in die ukrainische Hauptstadt Kiew und sendete von dort. Jetzt steht das Programm vor dem Aus. Der nächste Hieb, wahrscheinlich der noch größere. Ayder Muschdabajew, Vizedirektor des Senders, sagt am Telefon: "Für uns ist das eine große Tragödie."

ATR hat seit dem Umzug nach Kiew Geld von der ukrainischen Regierung bekommen, die Hilfe war fest eingeplant im Staatshaushalt. Der Sender, dessen Gründer und Besitzer Lenur Isljamow nach der Annexion der Krim noch vergeblich versucht hatte, mit den Russen einen Kompromiss zu finden, war stets wichtig für die krimtatarische Minderheit. Er hat sie auf Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch mit Informationen versorgt, egal, wo sie nun leben, noch auf der Halbinsel oder versprengt auf dem ukrainischen Kerngebiet. Vier Stunden Liveberichte jeden Tag. Aber seit Ende 2019 fließt das Geld nicht mehr, Vizedirektor Muschdabajew sagt, er selber habe seit September kein Gehalt mehr bekommen. Die Hälfte der Belegschaft ist abgesprungen. "Sie können es sich nicht leisten, so lange bei uns zu arbeiten, ohne Geld", sagt Muschdabajew.

Knapp zwei Millionen Euro sind im Staatsbudget vorgesehen, das Geld kam aber nicht

Warum der ukrainische Staat kein Geld mehr an den Sender überweist, ist nicht ganz klar. Muschdabajew sagt, dass der Staat neue Hindernisse errichtet habe für die Finanzierung, der Sender müsse dem Gesetz nach ein neues öffentliches Ausschreibeverfahren durchlaufen. Vor einigen Wochen hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij allerdings versichert: "Der Sender ATR wird seine Arbeit fortsetzen, und niemand wird ihm die staatliche Unterstützung entziehen." Vorgesehen im Staatsbudget sind knapp zwei Millionen Euro. "Doch seitdem ist nichts passiert", sagt Muschdabajew. "Seit Selenskijs Versprechen ist die alte Regierung gegangen und das Coronavirus gekommen. Ich gehe in ein leeres Studio." Schlechte Aussichten. Denn ATR hat hohe Schulden. Auf die Krim kann es nur mit einem verschlüsselten Satellitensignal senden, "das ist teuer für uns", sagt der Vizedirektor.

Die Kyiv Post spekulierte bereits, dass die ukrainische Führung derzeit kein gesteigertes Interesse an der Krim habe und die Krimtataren dies auch so spürten. Präsident Selenskij hatte im Wahlkampf zu seinem obersten Ziel erhoben, Frieden zu schaffen im umkämpften Donbass. Neulich erklärte sich der Chef der Regierungspartei "Diener des Volkes" auch offen dafür, aus humanitären Gründen die Wasserversorgung für die Krim wieder zu starten, die Kiew nach der Annexion gestoppt hatte. Die Krimtataren haben die Annäherung mit Sorgen verfolgt.

Das Verhältnis zwischen den muslimischen Tataren und Russen ist schon seit Jahrhunderten konfliktreich gewesen. Einst hatten die Krimtataren auf der Halbinsel geherrscht, machtvoll waren sie, einflussreich, auch einschüchternd. Bis das Zarenreich ihnen die Macht nahm. Stalin ließ die Krimtataren später mit brachialer Gewalt deportieren, erst unter Kremlchef Michail Gorbatschow kehrten sie rund um den alten Khan-Palast ans Schwarze Meer zurück. Aber das Verhältnis blieb belastet. Die meisten stemmten sich nach der Annexion gegen den Anschluss an Russland, vor fünf Jahren durchsuchten bewaffnete Uniformierte den Sender in Simferopol und unterbrachen das Programm. Die Moderatorin sagte zwar damals, "wir werden wieder zurückkommen", aber es blieb dann doch bisher nur das Exil. Und die Berichterstattung über den Satelliten. Immerhin. Die Mitarbeiter auf der Halbinsel recherchierten allerdings unter Gefahren, wurden schikaniert, festgenommen. Jetzt aber wird nicht einmal mehr gesendet. Nur eine Pause?

Muschdabajew sagt am Telefon, dass er einen offenen Brief an die EU-Kommission und an das Europaparlament geschrieben hat, mit der Bitte um Hilfe. 2016 hatte das Parlament der Kommission nämlich in einer Resolution geraten, ATR bei der Finanzierung zu helfen. Muschdabajew sagt, er habe sich aber nie konkret an die EU gewandt, "weil uns ja die ukrainische Regierung geholfen hat". Jetzt hofft er also doch auf Brüssel, "denn niemand sieht uns im Moment. Nicht in der Welt, nicht in der Ukraine". Aber die EU und auch die Ukraine, das ist Muschdabajew klar, haben derzeit noch ganz andere Sorgen.

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SZ vom 03.04.2020
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