Fall Relotius:Einblicke in die Fälschungen

Der "Spiegel" legt Ergebnisse zu den überprüften Texten von Claas Relotius vor.

Von Aurelie von Blazekovic

Etwa 60 Texte hat der Reporter Claas Relotius, 33, in der Print- und Onlineausgabe des Spiegel veröffentlicht. Viele davon waren gefälscht, wie das Magazin Mitte Dezember offenlegte. Relotius wurde entlassen, eine Untersuchungskommission eingesetzt. Am Freitag hat die Redaktion eine Liste von 28 teils oder komplett überprüften Texten online gestellt, mit der Ankündigung, diese weiter zu aktualisieren.

Der erste Stand rückt die bereits heftig in die Kritik geratene Spiegel-Schlussredaktion erneut in den Fokus. Im Text "Jedi-Radler" (2015) hat Relotius demnach Begriffe wie "Urban Bikes" falsch verwendet. Zudem heißt es, die Unterschiede zwischen "Singlespeed" und "Fixies" seien "vereinfacht wiedergegeben". Fehler, die jedem Faktenchecker hätten auffallen müssen. So klar fällt das erste Urteil in kaum einem anderen Fall aus, zu den meisten der bislang überprüften Texte bleiben wichtige Fragen offen.

Eine der umstrittensten Geschichten taucht in der ersten Liste gar nicht auf: 2017 gab es der Zeit zufolge hausintern massive Zweifel an einer Relotius-Geschichte über zwei angebliche Brüder, die der IS zu Selbstmordattentätern ausgebildet haben soll. Als ein Reporter von Spiegel TV im Nordirak nachforschte, stieß er auf Unstimmigkeiten. Auf SZ-Nachfrage, warum ausgerechnet diese Geschichte nicht zu den zuerst ausgewerteten zählt, heißt es vom Spiegel, "dass die Überprüfung nicht darauf angelegt sein kann, alle Fälschungen bis ins letzte Detail nachzurecherchieren, sondern es eher darum geht, beispielhaft klar zu machen, welche Texte betroffen sind".

Nicht nur der Spiegel ist mit der Aufarbeitung beschäftigt. In seiner Zeit als freier Autor veröffentlichte Relotius in mehr als einem Dutzend Medien, einige seiner Texte mehrfach. Die Weltwoche hat am Donnerstag den Zwischenstand der Nachprüfung veröffentlicht. Bei der Schweizer Wochenzeitung sind die zweitmeisten Relotius-Texte erschienen: 25 Interviews, eine Reportage, zwei Nachrufe. Bei acht Interviews konnte bestätigt werden, dass die Gespräche geführt wurden, in zwei Fällen hat sich auch der Inhalt als korrekt herausgestellt. Bisher habe keiner der Interviewpartner dementiert, mit Relotius gesprochen zu haben. Zwei Autoren könnten sich nicht mehr erinnern, ein Gespräch aber auch nicht ausschließen. Die Weltwoche will den offenen Fragen weiter nachgehen, Relotius selbst hat bisher auf keine Kontaktversuche der Zeitung reagiert.

Auch der Cicero hat keine Antwort von Relotius, der neun Texte in dem politischen Magazin, neun weitere in dessen Onlineausgabe unterbrachte. Die Texte wurden von der Webseite genommen.

Bei der taz machte Relotius zu Beginn seiner Karriere 2008 ein zweimonatiges Praktikum. Zehn Texte von ihm holte die Zeitung im Januar aus dem Archiv machte die Überprüfung der einzelnen Texte online öffentlich. Relotius hatte damals keine großen Reportagen geschrieben, sondern eher kurze Texte. Bei der Überprüfung fanden sich Ungenauigkeiten und fragwürdige Quellenangaben, aber keine erfundenen Geschichten. Für Vize-Chefredakteurin Barbara Junge sieht das "eher nach Anfängerfehlern aus, nicht nach systematischem Betrug am Leser und der Leserin".

Im SZ-Magazin hat Relotius 2015 zwei Interviews veröffentlicht. Ein Gespräch mit dem New Yorker Herrenschneider Martin Greenfield und eines mit den Woodstock-Veteranen Barbara und Nicholas Ercoline. Die Texte wurden zur Überprüfung ins Englische übersetzt und den Beteiligten vorgelegt. So stellte sich heraus, dass beide Interviews Fehler aufweisen und gegen journalistische Standards verstoßen.

Im Fall des inzwischen 90-jährigen Herrenschneiders sprach dessen Sohn am Telefon von "zahlreichen Beschönigungen und Fehlern". Die Woodstock-Veteranen erklärten in E-Mails, dass sie sich in der Veröffentlichung massiv missverstanden fühlen. Relotius selbst gab in SMS an die Chefredaktion zu, "manipuliert", "verdichtet" und unsauber gearbeitet zu haben. Beide Texte wurden von der Webseite entfernt.

Auch die Welt erhielt im Dezember eine SMS von Relotius: "Ich war an allen Orten, mit allen beschriebenen Personen. Die Texte sind korrekt." Die fraglichen Details der sechs dort erschienenen Relotius-Texte sind seit Dezember online nachlesbar. Protagonisten der Auslandsgeschichten aus Ländern wie Mexiko und Palästina konnte man bisher nicht erreichen, ein Interviewpartner ist inzwischen verstorben. Mail-Korrespondenzen mit zuständigen Welt-Redakteuren seien mittlerweile gelöscht und nicht mehr zu rekonstruieren.

Sechs Texte veröffentlichte die NZZ am Sonntag. Auf erfundene Personen, erfundene Zitate, erfundene Szenen sei man in drei davon gestoßen, sagte Chefredakteur Luzi Bernet der SZ. Weil die Geschichten in fernen Ländern und vor einigen Jahren spielen, sei die Nachrecherche aufwendig und werde jetzt nur noch passiv verfolgt, wenn von außen neue Hinweise kommen sollten.

Der Tagesspiegel hat noch im Dezember die beiden dort erschienenen Texte von Relotius als Fälschungen erkannt. Auf Nachfrage bei Regisseur Werner Herzog konnte dieser sich nicht an ein Gespräch mit dem Reporter erinnern, und auch bei einer Reportage wurde schnell klar, dass Relotius nie mit den darin Genannten gesprochen hatte. Beides gab er per SMS gegenüber der Redaktion zu.

Beim österreichischen Nachrichtenmagazin Profil fand man in fünf Relotius-Interviews bisher keine Anhaltspunkte für Fälschungen, dafür beschwert man sich über die Hamburger Kollegen: "Die Spiegel-Chefredaktion hat auf unsere Bitte um Unterstützung nicht einmal reagiert, was wir als ungehörig empfinden."

Die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung überprüft drei Texte noch, man wolle über die Ergebnisse zu gegebener Zeit berichten. Relotius veröffentlichte bei der dpa drei Korrespondentenberichte. Fälschungen konnten nicht belegt werden. Bei Zeit Online und Zeit Wissen sind zwischen 2010 und 2012 sechs Texte erschienen. Schon am 19. Dezember schrieb Relotius der Redaktion in einer SMS: "Alles ist korrekt." Das Gegenteil ergab dann die genaue Überprüfung der Texte, die man online mitverfolgen kann: Eine Familie mit zwei Kindern mit Trisomie 21, über die er geschrieben hatte, konnte von der Redaktion nicht gefunden werden, ebenso ein zitierter Entwicklungspädagoge. Ein Interview mit Regisseur Austin Lynch sei zu etwa zwei Dritteln erfunden und zu einem Drittel zumindest sehr frei übersetzt. Unproblematisch, so Zeit Online, sei eine Rezension: "Die rezensierte CD gibt es, die Rezension ist natürlich Geschmackssache."

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