Eurovision Song Contest:Remmidemmi und Winkekatzen

Ein bunter Beitrag zur "Me Too"-Debatte gewinnt, mit einem ruhigen Beitrag schneidet Deutschland so gut ab wie lange nicht. Beim NDR will man daraus Konsequenzen ziehen.

Von Hans Hoff

Beim Norddeutschen Rundfunk dürften jetzt ein paar ziemlich dicke Steine herumliegen. Es sind jene, die den im Sender für den Eurovision Song Contest (ESC) Verantwortlichen in der Nacht zum Sonntag vom Herzen gefallen sein dürften. Für sie hat die lange Durststrecke ein Ende, denn Deutschland durfte bei der Trällerparade der European Broadcasting Union (EBU) die rote Laterne abgeben. Vorbei die Zeiten, da beim ESC Finale der deutsche Beitrag Letzter (2015 und 2016) oder Vorletzter (2017) wurde. Endlich hat man wieder ein vorzeigbares Ergebnis: Michael Schulte aus Buxtehude ist mit seinem Song "You Let Me Walk Alone" auf Rang vier gelandet, was für deutsche Verhältnisse kaum weniger als eine Sensation ist.

Noch in der Nacht wirkte Thomas Schreiber in einem NDR-Interview eher ungläubig und für seine Verhältnisse fast schon bescheiden. "Wir sind für Michael glücklich", sagte der ARD-Unterhaltungskoordinator, der vor allem in den Jahren, nachdem der ESC-Lotse Stefan Raab von Bord gegangen war, durch ziemlich schweres Wetter musste. "Wir haben nur ein bisschen geholfen", urteilte er deshalb über den Beitrag seines Teams und blieb auch beim Ausblick auf die Folgejahre zurückhaltend. "Bewahren muss das erste Ziel sein, steigern das zweite", gab er als Devise aus und kündigte an, das nun gefundene Modell der Kandidatenauswahl beizubehalten und immer erst die Künstler auszuwählen und ihnen dann den passenden Song auf den Leib zu schneidern.

Im Fall von Michael Schulte hat das in diesem Jahr so hervorragend geklappt, dass um ein Haar auch noch Rang drei dringewesen wäre. Aber dort hatte sich der österreichische Beitrag "Nobody But You" von Cesár Sampson breitgemacht, wenn auch mit einem denkbar knappen Vorsprung von zwei Punkten. Allerdings blieb auch Sampson mit 342 Punkten meilenweit hinter dem zweitplatzierten Song "Fuego" von Eleni Foureira aus Zypern zurück, der 94 Punkte mehr bekam. Noch einmal 93 Zähler mehr vereinte Netta auf sich. Mit ihrem Titel "Toy" und einem fast schon naturgewaltigen Auftritt sorgte die Sängerin dafür, dass der ESC 2019 in Israel ausgetragen wird. "Nächstes Jahr in Jerusalem", twitterte Ministerpräsident Netanyahu noch in der Nacht und legte damit schon mal den Austragungsort fest.

Einmal schrill und einmal still, das geht bei diesem Wettbewerb der Extreme nebeneinander

"Toy" ist kein besonders origineller Song, und ohne seine Interpretin wäre er wohl eher auf einem der hinteren Ränge gelandet. In der Interpretation von Netta, die sich vor einer Batterie von Winkekatzen postierte und Pop- und HipHop-Elemente in diverse Soundschleifen schickte und mit ententanzähnlicher Sparakrobatik versah, wurde aus dem simplen Song ein lautstarkes Plädoyer dafür, das eigene Ich zu akzeptieren, unabhängig von Äußerlichkeiten. Quasi der Gegenentwurf zu den entwürdigenden Abkanzlungsritualen bei Heidi Klums Topmodel-Suche. Mit der Zeile "I'm not your toy, you stupid boy" lieferte sie zudem einen schönen Beitrag zur aktuellen "Me Too"-Debatte.

Der ESC bewährte sich damit wieder einmal als Podium, auf dem gerne gesellschaftliche Gegenentwürfe gefeiert werden, ob es nun 2014 der Sieg von Conchita Wurst war oder der von Salavador Sobral, der im Vorjahr mit einem sehr leisen Lied auf Portugiesisch als Sieger aus dem Wettbewerb gegangen war und am Samstag gefeiert wurde, weil sein Erscheinen beim diesjährigen ESC sein erster großer Auftritt seit einer Herztransplantation im Dezember war. Er sang noch einmal seinen Siegertitel "Amar pelos dois" und demonstrierte damit, wie groß die Bandbreite beim ESC ausfallen kann. Einmal schrill und einmal still, das geht bei diesem Wettbewerb der Extreme nebeneinander.

Es gab, wie beim ESC üblich, viel Remmidemmi, viel Pomp, viel alberne Spielerei und so viele Pyroeffekte wie selten. Im Schatten dieses Flammenmeers schlich sich Michael Schulte auf Startposition elf ein wenig verhuscht auf die Bühne. Da stand er dann allein, der zottelige Junge aus Buxtehude, der seinem gestorbenen Vater ein Lied singen wollte und dies dann auch mit großer Inbrunst und kleinen Familienfotos im Hintergrund tat. Diese Beschränkung auf das Wesentliche, der Verzicht auf jeglichen Rummsbumms wurde Schulte im Vorfeld oft als Schwäche ausgelegt. Er wirke wie eine armselige Ed-Sheeran-Kopie, hieß es, aber dann sang er mit so viel Gefühl und so verdächtig glänzenden Augen, dass sein Anliegen sich auch in die letzten Ecken des EBU-Sendegebiets vermittelte. "Mein Traum war, einmal zwölf Punkte zu bekommen", berichtete der 28-Jährige hinterher von seinem Traumziel. Sein Traum wurde übererfüllt, denn es gab die berühmten zwölf ESC-Punkte nicht nur aus den Niederlanden, sondern auch aus der Schweiz, aus Dänemark und aus Norwegen.

Schulte profitierte auch von dem erst vor ein paar Jahren geänderten Auszählungsmodus, bei dem erst aus allen Ländern die Jury-Wertungen bekannt gegeben werden und danach die Wahl der Zuschauer ins Spiel kommt. In diesem Jahr wurde besonders deutlich, dass sich das Urteil der Experten schon arg von dem der anrufenden Zuschauer unterscheiden kann. Diese bittere Erfahrung musste vor allem der schwedische Beitrag machen, der nach Auszählung der Jurystimmen mit 253 Punkten auf Platz zwei rangierte, dann aber von den Zuschauern nur schlappe 21 Punkte dazu bekam und auf Position sieben heruntergereicht wurde. Michael Schulte dagegen hielt sich in beiden Abstimmungsphasen auf dem vierten Platz.

Für ARD-Strategen dürfte die Zahl der Zuschauer unter 50 Jahren bemerkenswert gewesen sein

Ein Gewinn war das diesjährige Abstimmungsverfahren auf jeden Fall für den Zuschauer, der es bis weit nach Mitternacht spannend hatte und somit entschädigt wurde für manchen musikalischen und optischen Unfall in den Stunden vorher. In Deutschland wollten das 7,71 Millionen Menschen im Ersten sehen. Zusammen mit den Zahlen des ARD-Ableger One, der parallel übertrug, kam man sogar auf 8,21 Millionen. Besonders bemerkenswert für die ARD-Strategen ist dabei die Zahl der Zuschauer unter 50 Jahren, denn die summierte sich allein im Ersten auf 3,4 Millionen, was einem phänomenalen Marktanteil von 42 Prozent entspricht.

Als einziger ein wenig enttäuscht vom Abend dürfte indes das Ausrichterland gewesen sein, denn der Vorjahressieger Portugal musste sich damit abfinden, am Ende auf dem letzten Platz zu landen. Das mahnt alle zur Besonnenheit, die sich bei ihren Höhenflügen ein wenig zu selbstbewusst der Sonne nähern. Der nächste Absturz liegt manchmal sehr nah. Das wird man sich sicherlich bei aller Freude auch beim NDR, wo all die dicken Steine noch weggeräumt werden müssen, zu Herzen nehmen.

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