Süddeutsche Zeitung

Eurovision Song Contest in Tel Aviv:ESC ist, wenn Deutschland die Nähe zur roten Laterne spürt

Die Niederlande gewinnen den Eurovision Song Contest in Tel Aviv. Einmal mehr heißt es: Deutsche unter den Verlierern. Dabei ist der Auftritt von S!sters nicht das einzige Problem dieses überlangen Showabends.

TV-Kritik von Hans Hoff

Deutschland hat mal wieder verloren. Drittletzter ist das vom NDR entsandte Duo S!sters beim Eurovision Song Contest (ESC) in Tel Aviv geworden. Als einziger von 26 Beiträgen hat das deutsche Lied null Punkte von den Zuschauern bekommen. Da trösten auch die 32 Punkte, die es von den Jurys in 41 Ländern gab, nicht viel. Damit steht fest, dass der vierte Platz, den Michael Schulte im vergangenen Jahr für Deutschland einfuhr, als Ausrutscher zu verbuchen ist. ESC ist halt, wenn Deutschland auf den hinteren Rängen die Nähe zur roten Laterne spürt und irgendwer anderes jubelt.

Sieger ist in diesem Jahr der Favorit geworden. Wochenlang schon stand der Niederländer Duncan Laurence bei den Buchmachern ganz oben auf den Listen, und dementsprechend konzentrierten sich alle Scheinwerfer auf den 25-Jährigen, als gegen ein Uhr in der Nacht zu Sonntag eine quälend lange Veranstaltung zu Ende ging und der Gewinner noch einmal seinen leisen Titel "Arcade" singen musste.

Der verdiente Triumph des in Südholland aufgewachsenen Musikers, der es 2014 auch bei der TV-Show The Voice Of Holland bis ins Finale geschafft hatte, wirkte ein bisschen wie eine Erlösung von der Qual einer überlangen ESC-Show, in der in diesem Jahr vieles überarbeitungswürdig erschien und viel daneben ging. Nicht nur für die S!sters.

Madonna vermasselt gleich zwei Lieder spektakulär

Denen dürfte allerdings schon früh klargeworden sein, dass sie keinesfalls Allerletzter werden können, denn den Titel hatte sich schon während der langwierigen Abstimmungsphase Madonna gesichert. Quasi unehrenhalber. Die amerikanische Sängerin sollte zwei Lieder vortragen, ein bekanntes und ein neues. Sie vermasselte beide spektakulär, sang peinlich schief, tapste ungelenk herum und läutete damit unfreiwillig das Ende einer Karriere ein, deren Zenit schon länger außer Sichtweite geraten war.

Was hatte es vorab für ein Gewese um diesen Madonna-Auftritt gegeben. Wochenlang hieß es, sie komme, aber dann gab es ewig keine offizielle Bestätigung der ESC-Ausrichter. Erst ein paar Tage vor der Veranstaltung war dann klar, dass Madonna wirklich antritt. Ganz offensichtlich wollte sie sich die Chance nicht entgehen lassen, vor fast 200 Millionen ihr neues Album zu bewerben, was die Frage aufwarf, wer da wen braucht: der ESC Madonna oder Madonna den ESC.

Dass es nicht der ganz große Triumphzug werden würde, kündigte sich schon kurz vor ihrem Auftritt an, als Madonna zum Interview im Green Room antrat und das Gespräch zu einer eher peinlichen Konversation ausartete. Mit ihrem Auftritt gab sich der einstige Superstar dann selbst den Rest.

Das hatte dann zumindest den Vorteil, dass sich alle Sängerinnen und Sänger, die vorher angetreten waren, ihrer möglichen Zweifel entledigen konnten. So schlecht wie Madonna hat bei diesem ESC lange niemand mehr gesungen.

Die lichtverarbeitende Industrie darf zeigen, was sie kann

Leider war die 60-jährige Diva nicht der einzige Tiefpunkt an diesem Abend, denn auch an der Veranstaltung selbst gibt es einiges, was nicht mehr rund läuft, und den Schluss nahelegt, dass der ESC dringend einer Überarbeitung bedarf.

Da ist zum einen die Gefahr, dass die Veranstaltung an ihrer eigenen optischen Opulenz erstickt. Lange galt der ESC als die Bühne, auf der die lichtverarbeitende Industrie zeigt, was sie kann. Da wurde selten gekleckert, dafür umso mehr geklotzt. Immer wieder gab es auch in diesem Jahr wirbelnde Sterne zu sehen, ganze Galaxien, lodernde Flammen, und ein schwarzes Loch war mit Sicherheit auch dabei. Die Lichttrickser haben getan, was sie tun konnten, bis auch dem letzten Zuschauer ob diesen vielfach repetierten Zuviels schon ganz schwindelig wurde. Das rechte Maß ging dabei leider verloren. Eine Lichtdiät wäre da nicht das falscheste Mittel.

Auch ist der ESC an seine Grenzen gestoßen. Zu oft wird da die Lied-Soße nach der immer gleichen Rezeptur angerührt. Dauernd herrscht Dynamikzwang. Erst geht es leise los, dann wird es laut, dann wieder leise, und keinesfalls dürfen die Breaks zur Spannungssteigerung vergessen werden. Obendrüber wird dann noch eine fette Schicht Pathos gehäuft und das Ganze mit Kitsch überbacken. So etwas funktioniert, wenn man es einmal hört. Wenn es sich allerdings vielfach wiederholt, dann erstickt die pure Fülle rasch das Interesse des Zuhörers.

Es verwundert daher wenig, dass ausgerechnet Duncan Laurence gewann, mit einem Lied, das sich den gängigen Rezepturen weitgehend entzieht und auf eher leise Töne setzte. So wie es vor zwei Jahren schon Salvador Sobral, der Sieger von 2017, getan hatte.

Dass in diesem Jahr etwas gewaltig aus dem Ruder laufen würde, wurde spätestens während der überlangen Abstimmungsphase deutlich, als Madonna noch gar nicht in Sicht war. Da reihte sich ein Pausen-Act an den anderen. Es wollte gar nicht mehr aufhören. Hier noch ein dümmliches Green-Room-Interview, dort ein Zauberer, und dann noch irgendwer, der auch noch dringend singen musste. Quälend lang.

Die Ausrichter spielten ein ziemlich schäbiges Spiel mit den Zuschauern

Vollends daneben ging diesmal auch die Verkündigung der Punkte. Die wurden zur Hälfte von Fachjurys und zur anderen Hälfte von den anrufenden Zuschauern vergeben. Das hatte zur Folge, dass zur Halbzeit nach den Wertungen der Jurys Schweden an der Spitze lag, gefolgt von Nord-Mazedonien und den Niederlanden. Dann gab es nach einem sehr undurchsichtigen System die Zuschauerpunkte obendrauf, was dazu führte, dass es gegen Ende, als Nord-Mazedonien schon auf den achten Platz abgesackt war, aussah wie ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Niederlanden und Schweden.

Das sollte dramatisch wirken und für Spannung sorgen, was sich allerdings als Zuschauerverlade entpuppte, da Schweden nur so wenige Zuschauerpunkte bekam, dass es auf den sechsten Platz abrutschte. Die Ausrichter, die vorher genau wussten, wie sich die Punkte verteilten, haben da ein ziemlich schäbiges Spiel mit den Zuschauern und auch mit dem schwedischen Kandidaten gespielt. Ein Spiel, das dem ESC nicht gut zu Gesicht steht.

Es gibt also viel zu tun. So viel, dass im Windschatten all der Aufgaben das schlechte Abschneiden der deutschen Delegation gar nicht so sehr ins Gewicht fällt. Man kennt sich ja inzwischen aus da hinten auf den Loser-Rängen. Und im Nachhinein erklärte sich dann auch, warum sich die S!sters nach ihrem ganz ordentlich vorgebrachten, aber leider etwas einfallslos inszenierten Auftritt jubelnd in den Armen lagen, als habe man ihnen eben die Freilassung nach langjähriger Haft verkündet. Sie wussten, dass sie es geschafft haben, dass sie raus sind aus dem Geschäft, dass im kommenden Jahr jemand anderes keine Punkte bekommt.

Es steht allerdings zu befürchten, dass es auch dann wieder heißt: Deutsche unter den Verlierern.

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