Süddeutsche Zeitung

Presseschau:"So viel Europa war schon lange nicht mehr"

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Allerdings fragen sich viele Kommentatoren, wie das so zersplitterte Europäische Parlament noch handlungsfähig sein kann. Ein Blick in die Presse.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung konstatiert zwei Ängste, warum so viele Bürger an der Europawahl teilgenommen haben:

"Erstens hat die Sorge vor einer phlegmatischen Klimapolitik gerade jüngere Wähler an die Urnen getrieben; in Deutschland und Frankreich profitierten die Grünen davon. Zweitens ging die Sorge vor einer feindlichen Übernahme der EU durch illiberale Nationalisten um. (...) Womöglich kann Manfred Weber davon profitieren, der nun das Amt des Kommissionspräsidenten beansprucht. Seine EVP bleibt stärkste Fraktion im Europäischen Parlament, aber auf niedrigerem Niveau. Die Zeiten der informellen Koalition mit den Sozialdemokraten sind, mangels Masse, vorbei; die Mehrheitsfindung wird komplizierter. Das macht es auch den Bürgern noch schwerer zu durchschauen, welche Partei in Brüssel und Straßburg welchen Beschluss zu verantworten hat. Ihr Interesse wachzuhalten, wird nicht die kleinste Aufgabe für das neue Europaparlament."

Auf Europa bezogen stellt der österreichische Standard eine Trendumkehr fest:

"So viel Europa war schon lange nicht mehr. Zum ersten Mal seit der großen EU-Erweiterung 2004 ging die Wahlbeteiligung wieder deutlich in die Höhe, von 42 auf 50 Prozent. Eine Trendumkehr. Das Gemeinsame regt Europa auf: im Positiven wie im Negativen. (...) Die Zukunftsthemen - Klima, Energie, Bildung, Jugend, Soziales -, die vor allem von den Liberalen und Grünen gepusht wurden, gewinnen deutlich an Gewicht. Das ergibt sich aus den neuen Mehrheitsverhältnissen zwingend. (...) Zu beneiden ist die nächste EU-Kommission keineswegs. Sie erbt den ungelösten Brexit. Solange der EU-Austritt der Briten nicht geklärt ist, wird es schwer sein, den künftigen EU-Budgetrahmen oder auch substanzielle interne EU-Reformen konkret anzugehen."

Auf die komplizierte Suche nach einem gemeinsamen Kandidaten konzentriert sich hingegen die Neue Züricher Zeitung:

"Bei der Europawahl haben die proeuropäischen Kräfte am Sonntag den großen Angriff der Rechtsnationalen abgewehrt, doch dürfte sich das neu gewählte Europaparlament in der Legislaturperiode zwischen 2019 und 2024 wesentlich zersplitterter präsentieren als das bisherige. (...) Ein Treffen zwischen den Spitzenkandidaten am Montagabend sowie eine Sitzung der Fraktionschef am Dienstag sollen nun einen Weg aus der verfahrenen Lage weisen, wobei das Europaparlament unter Druck steht, sich rasch auf einen gemeinsamen Kandidaten fürs Kommissions-Präsidium zu einigen. Denn bereits am Dienstagabend kommen in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Staaten zusammen, die eine Blockade im Parlament ausnützen und neue Kandidaten ins Spiel bringen könnten. Das Ringen droht also zum Machtkampf zwischen dem Parlament und den Mitgliedstaaten zu werden."

Auch die französische Le Monde geht auf die zunehmend schwieriger werdende Kompromissfindung im Europäischen Parlament ein:

"Die proeuropäischen Parteien haben es geschafft, den Aufschwung der Euroskeptiker zu unterdrücken bei einer Wahl, die von hoher Beteiligung und hohem Erfolg der Grünen geprägt war. Aber es wird schwierig, unter all den zersplitterten Gruppen und unterschiedlichen Stimmen Allianzen bilden zu können."

Der italienische Corriere della Sera weist darauf hin, dass sich die Parteien der Mitte nach ihrem Sieg nicht zurücklehnen dürfen:

"Die sogenannten Populisten waren weniger erfolgreich als erhofft und von ihren politischen Gegnern befürchtet. Aber hier liegt eine große Gefahr: nämlich dass die traditionellen Kräfte sich nun zurücknehmen und ihre Politik nicht ändern. (...) Die große Frage der nächsten Jahre lautet: Schafft es ein Europa, das so zersplittert ist zwischen Ländern und politischen Richtungen, auf die Bedürfnisse der Bürger und die Herausforderungen der Welt einzugehen? Noch dazu mit lahmgelegten Anführern?"

Auch die New York Times betont, dass das künftige Europäische Parlament chaotischer und schwerer zu kontrollieren sein wird als je zuvor.

"Die Europawahlen zeigen die wachsende Spaltung darüber, wie es mit der Europäischen Union weitergehen soll. (...) Populisten und Nationalisten, die an der Macht der Europäischen Union beteiligt werden wollen, haben im Parlament Sitze dazugewonnen. Aber es war nicht der sintflutartige Sieg, den viele in den Volksparteien gefürchtet haben. (...) Die Ergebnisse zeigen, dass der Kampf zwischen den beiden Blöcken - stärkere Integration der europäischen Nationen oder das Gegenteil - intensiver geführt werden wird."

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