Normalerweise können Sportverbände die überragende Bedeutung des Spitzensports für das Gemeinwesen gar nicht genug preisen. Als sich der Weltfußballverband Fifa und der europäische Verband Uefa vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu äußern hatten, war ihnen freilich daran gelegen, das Gegenteil deutlich zu machen: Eine erhebliche gesellschaftliche Relevanz könne man weder der Fußball-Weltmeisterschaft noch der Europameisterschaft bescheinigen, wollten sie den EU-Richtern plausibel machen. Indes, das durchsichtige Argument verfing nicht. Denn auch die hohen EU-Juristen wissen: Wenn das Volk überhaupt irgendwo beieinander ist, dann bei WM und EM. Mehr gesellschaftliche Relevanz geht kaum.
Mit seinem an diesem Donnerstag bekannt gegebenen Urteil zieht der EuGH einen Schlussstrich unter einen Streit, bei dem es vor allem um eines geht: um das Interesse der Verbände, mit der Exklusivvermarktung von sportlichen Topereignissen Geld zu verdienen. Eine europäische Richtlinie, 1989 erlassen und 1997 novelliert, hat dieses Interesse empfindlich beeinträchtigt. Danach bleibt es den Mitgliedsstaaten überlassen, Ereignisse von "erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung" aufzulisten und damit dem frei empfangbare Fernsehen zugänglich zu machen.
Die sportlichen Vorlieben der EU-Staaten
Im konkreten Fall ging es um die Listen Belgiens und Großbritanniens, wonach die WM-Endrunde sowie, im Fall der Briten, auch die Endrunde der EM so relevant seien, dass sie nicht ausschließlich im Pay-TV ausgestrahlt werden dürften. Die beiden internationalen Sportverbände hatten dies zunächst bei der EU-Kommission und dann beim Europäischen Gericht erster Instanz angefochten - ohne Erfolg. Der EuGH hat nun das letzte Wort gesprochen und die vorigen Entscheidungen bestätigt.
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Danach wird es den Verbände auch in Zukunft schwer fallen, solche Listen zu kippen. Denn der EuGH hat im Grundsatz bekräftigt, dass Dienstleistungsfreiheit und Eigentumsrechte beschränkt werden dürfen, um die Top-Events des Sports frei empfangbar zu halten. Fifa und Uefa regierten enttäuscht: Damit werde die Möglichkeit verringert, Geld zu verdienen, das man etwa in den Amateurfußball stecken könnte. Die Fifa mache ohnehin mindestens 22 Spiele frei zugänglich.
Solche Listen existieren in vielen Staaten; Deutschland etwa reserviert Olympia fürs breite Publikum, dazu alle WM- und EM-Spiele mit deutscher Beteiligung (wie überhaupt alle Länderspiele) sowie Eröffnungsspiel, Halbfinale und Finale. Dazu kommen Finalspiele im DFB-Pokal (plus Halbfinale) sowie in Champions League und Uefa-Cup, wenn deutsche Mannschaften dabei sind. Andere Länder setzen andere Schwerpunkte, Finnland etwa beim Eishockey, Irland beim Pferderennen. Der EuGH billigt den Staaten einen großen Beurteilungsspielraum in der Frage zu, welche Ereignisse sie für relevant halten. Kommission und Gerichte könnten diese Einstufung nur eingeschränkt kontrollieren.
Gleichwohl hat das Gericht eine kleine Differenzierung hinzugefügt, die den Verbänden ein wenig entgegenkommt. Es sei zumindest nicht zwingend, alle Endrundenspiele für gleichermaßen bedeutend zu halten. In den beiden konkreten Verfahren hat das Gericht zwar gebilligt, dass die komplette Endrunde auf der Liste stand; allerdings müssen die Staaten schon eine Begründung dafür liefern, warum sie alle Spiele für relevant halten.
Im Grundsatz jedoch folgt das Urteil aus Luxemburg jener großen Linie, die sich auf folgende Formel bringen lässt: Der Sport ist für das Gemeinwesen zu wichtig, als dass man ihn den exklusiven Vermarktungsinteressen seiner Veranstalter überlassen könnte. In diese Richtung ging auch - mit anderer juristischer Begründung - die Klage einer englischen Kneipenwirtin, die sich vor zwei Jahren erfolgreich gegen die Exklusivvermarktung mithilfe bestimmter Pay-TV-Decoder durchgesetzt hat; sie darf seither auf ausländisches Fernsehen zurückgreifen. Und erst im Januar billigte der EuGH das zweite rechtliche Instrument, mit dem Exklusivrechte durchlöchert werden, das Recht der Sender auf Kurzberichterstattung.
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Damals ging es um Sky Österreich, das die Exklusivrechte für die Europa League erworben hatte, aber wegen der Mediendienste-Richtlinie der EU dem ORF Bilder für 90-Sekunden-Berichte zur Verfügung stellen musste. Dafür durfte Sky nur die Kosten für den technischen Zugang zum Satellitensignal berechnen - die sich auf bittere null Euro beliefen. Laut EuGH dient der breite Zugang zum TV-Sport dem Gemeinwohl, das durch einen erkennbaren Trend zur Exklusivvermarktung Schaden nehmen könnte.
Ein Urteil übrigens, das wie ein Echo auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1998 klingt. Damals hatte Karlsruhe die Kurzberichte gebilligt und geschrieben: "Der Sport bietet Identifikationsmöglichkeiten im lokalen und nationalen Rahmen und ist Anknüpfungspunkt für eine breite Kommunikation in der Bevölkerung." Hinter dieser Rechtsprechung steckt also die Erkenntnis, dass eine säkularisierte, individualisierte, fragmentierte Gesellschaft gar nicht mehr so viel hat, worüber man mit allen reden könnte.
Die Karlsruher Richter wussten übrigens seinerzeit sehr genau, wovon sie sprachen. Zumindest einer von ihnen wurde, wenn wichtige Fußballspiele liefen, häufig vor dem Fernsehgerät in der Pförtnerloge gesichtet.