Essayband zum "Tatort":Auf philosophischer Mördersuche

Tatort ARD Vorspann Tatort-Vorspann

"Im Dschungel einer US-amerikanischen Großstadt"? Die rennenden Beine aus dem Tatort-Vorspann.

(Foto: ARD/SF DRS/ORF)

Der "Tatort" unter dem Raster der großen Philosophen: Einige Autoren haben versucht, die Faszination des Bösen oder das Liebesleben der Ermittler mit Siegfried Kracauer oder Hannah Arendt zu erklären. Ein kühnes Unterfangen.

Von Fritz Göttler

Rasantes Tempo, gleich zu Beginn, eine furiose Analyse der Musik des berühmten Tatort -Vorspanns, der Magie der großen Augen, der hastenden Beine . . . Takt für Takt geht Florian Werner in seinem Beitrag zum Band "Der Tatort und die Philosophie" Klaus Doldingers Musik durch, mit Hilfe von Nietzsches philosophischen Begriffen. Zeigt, wie die Spannung steigt, die Perspektive sich weitet. Revolutionäres Potenzial steckt in dieser Sequenz, da wird - es war Ende der Sechziger, als Doldinger das komponierte, an seinem Schlagzeug im Studio saß Udo Lindenberg - ein Spektrum aufgespannt, das erst ganz allmählich, im Lauf vieler Jahre voll realisiert wird von den Folgen der Serie.

Die ersten Sekunden des Vorspanns klingen nach mitteleuropäischem, psychedelisch ein wenig verhangenem Mischwald, danach wird es plötzlich jazzig, wir stecken "nun in den Mangrovenwäldern von Louisiana oder Mississippi oder, das legen die dazu eingeblendeten Bilder von rennenden Beinen auf regennassem Asphalt nahe, im Dschungel einer US-amerikanischen Großstadt". Wir sind, so kann man es natürlich auch sehen, vom klaren Apollinischen ins berauschte Dionysische gewechselt.

Die Leute um die Zeitschrift Philosophie Magazin, unter Anleitung ihres Chefs Wolfram Eilenberger, haben sich des Tatorts angenommen, seine kriminalistischen Mechanismen und gesellschaftlichen Bezüge analysiert und der Dauersonntagabendserie die Raster der großen Philosophen eingezogen. Der Ordnung halber wird anfangs noch mal einmal Adornos kurzatmige Schelte der Kulturindustrie aufgeführt, dann kommen die Stars des Betriebs ins Spiel, Emmanuel Lévinas und Gilles Deleuze, Alain Badiou und Hannah Arendt, Siegfried Kracauer und Marshall McLuhan, die eingespannt werden, um die großen Tatort-Fragen zu behandeln: Schuld und Sühne, die Motive der Täter, die privaten Probleme der Ermittler, die Faszination des Bösen, die bis zur Empathie führt - "Weil sie böse sind" hieß eine der radikalsten Folgen, gesendet aus Frankfurt.

Ein kühnes Unternehmen, dem gewöhnlichen Tatort-Volk die Größen der Philosophiegeschichte nahezubringen - leider hält das Buch das nietzscheanische Anfangstempo, die argumentative Atemlosigkeit nicht durch, und der Gebrauchswert für Tatort-Fans wie auch von der Begeisterung eher Unberührte ist nicht immer gewährleistet. Jedes Philosophieren involviert auch den Philosophierenden persönlich, und es bleibt dem Engagement, der Leidenschaft der Autoren in dem Buch überlassen, den Leser für ihren Denker zu begeistern - wie Florian Werner, Ekkehard Knörer, Stefan Münker oder Ariadne von Schirach es tun. Sie bringt wirklich Interesse auf für das Liebesleben der Kommissare, die geschwisterliche WG von Lena Odenthal und Mario Kopper, die Geschiedenen, Inga Lürsen und Nils Stedefreund in Bremen, Nick Tschiller in Hamburg, das Verlangen auch, Charlotte Lindholm endlich wieder einen Freund zukommen zu lassen.

Ebenso anschaulich erzählt Ariadne von Schirach, was sie aus den Büchern des großen Alain Badiou lernte, seinem Begriff des Ereignisses, das eine Erschütterung, eine Störung der Abläufe bewirkt: "Dadurch entsteht eine Lücke im System, ein Gestaltungsspielraum, der Platz schafft für eine neue und andere Ordnung" Ereignisse passieren in der Politik, der Wissenschaft, der Kunst und - hier wird es für den Tatort interessant - in der Liebe, in der Begegnung mit dem Anderen: Der Andere ist "mit seinem Sein bewaffnet in mein Leben getreten und hat es damit zerbrochen und neu zusammengesetzt". Ja, diese Liebe ist gefährlich, daher wird sie von den TV-Dramaturgen schnell wieder fallen gelassen. "Können die Tatort-Kommissare dem Ereignis der Liebe im badiouschen Sinne nicht treu sein? Ist das alles nichts als spätmoderne Unverbindlichkeit?"

Das liest man gern, da klingt ein wenig Verzweiflung an über den TV-Alltag, da wird der Band zum Handbuch, zum Auftrag, mit Hilfe von Badiou - und einer kleinen Dreingabe Eva Illouz - künftigen Tatorten eine größere Tiefe, mehr emotionale Wagnisse mitzugeben. Lebendige Philosophie braucht durchaus auch Momente der Spekulation, auch da schreckt das Buch oft zurück. Manchmal muss man sich dann auf die Kraft der Parabeln verlassen - der vom Frosch und dem Skorpion zum Beispiel, die in der WDR-Geiseldrama-Folge "Franziska" im Januar vorkam: Der Frosch bringt den Skorpion über einen Fluss ans andere Ufer, der Skorpion wird nicht stechen, sagt er sich, weil er sonst selber draufgehen würde. Doch der Skorpion sticht, er kann nicht anders . . .

Wolfram Eilenberger (Hrsg.): Der Tatort und die Philosophie. Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie. Tropen/J. C. Cotta Verlag, Stuttgart 2014. 220 Seiten.

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