Der ESC ist eine "unpolitische Veranstaltung". So steht es in den Statuten des Eurovision Song Contest (ESC). Alle teilnehmenden Rundfunkanstalten haben demnach dafür Sorge zu tragen, dass der Gesangswettbewerb keinesfalls politisiert wird. An diesem Samstag geht der ESC in Tel Aviv nun zum 64. Mal über die Bühne. Auch für diesen Abend gilt die ESC-Regel: "Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt."
Das ist allerdings nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn man kann den ESC abseits des auf Glamour ausgelegten Bühnengeschehens durchaus als Veranstaltung werten, die immer wieder politische Wirkung zeigt. Das belegt nicht nur die Diskussion um den diesjährigen Austragungsort Tel Aviv. Schon kurz nach dem Sieg der israelischen Sängerin Netta, die im vergangenen Jahr in Portugal mit einem quietschbunten Auftritt und dem vor Selbstbewusstsein strotzenden Song "Toy" den Finalsieg einfuhr, twitterte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu "Nächstes Jahr in Jerusalem" - und versuchte so, das Unternehmen ESC für seine Interessen zu vereinnahmen. Schon da war allen Realisten in der Planungsabteilung klar, dass es zu einem Finale in Jerusalem, einem symbolträchtigen und mit religiöser Bedeutung aufgeladenen Ort, nicht kommen würde.
Der ESC ist die wohl größte Bühnenshow der Welt, deren Kosten je nach Ausrichterland auf einen Betrag zwischen 20 und 30 Millionen Euro geschätzt werden. Er ist eine gigantische Leistungsschau der lichtverarbeitenden Industrie, die ihr Können unter Hinzunahme einiger Liedchen an eine Zuschauermasse bringt, die sich in der Regel nahe der 200-Millionen-Grenze einpendelt. Im vergangenen Jahr verfolgten nach Angaben der ausrichtenden European Broadcasting Union (EBU) weltweit etwa 186 Millionen Menschen die Show.
Der ESC ist aber immer auch eine Art Kulturaustausch, der in so manchen empfangenden Ländern mit einer besonderen Mischung aus Begeisterung und Skepsis aufgenommen wird. Die Menschen vor den Bildschirmen mögen die Opulenz der Präsentation und diese demonstrativ vorgetragene Ausgelassenheit des Publikums.
Vor der Kiss-Cam kamen sich vor allem Männer nahe
Die allerdings gefällt nicht allen Moralisten in jedem Land. So wird es in Ländern wie Russland oder Aserbaidschan nicht alle Tage vorkommen, dass sich reihenweise Männer vor der Kamera küssen, so wie es am Dienstag beim international übertragenen Halbfinale des ESC zu sehen war. Da setzten die Veranstalter eine sogenannte Kiss-Cam ein, die auf Paare im Publikum zielte und diese damit aufforderte, einander oral nahe zu kommen. Die meisten ins Visier Genommenen nutzten die Chance, sich vor einem Millionenpublikum zu küssen. Und die meisten, die das an diesem Abend taten, waren Männer.
Das hängt damit zusammen, dass der ESC traditionell so etwas wie das Weihnachtsfest der Gay Community ist. Schwule in aller Welt haben diesen Wettbewerb zu ihrem auserkoren und prägen ihn in vielerlei Hinsicht. Wie gut das klappt, belegt nicht nur der überwältigende Sieg des in Frauenkleidern angetretenen Österreichers Tom Neuwirth, der als Conchita Wurst 2014 den ESC nach Wien holte, sondern auch ein humoristischer Tweet des deutschen Journalisten Imre Grimm aus Israel. "Ich berichte als heterosexueller Journalist vom Eurovision Song Contest. Und ich gucke 'Game of Thrones' nicht. Ich weiß, was Einsamkeit bedeutet", twitterte er vor ein paar Tagen.
Der Export von schwulem Stolz in die internationale Fernsehwelt hinein ist aber nicht der einzige Beleg für die politische Wirkung des ESC. Es sind immer auch die kleinen Gesten, die es durch die Kontrollen der Ausrichter schaffen und damit deutlich machen, dass es auf die Botschaft zwischen den Zeilen ankommt. Ein wenig ähnelt der ESC in dieser Hinsicht dem Kabarett in Diktaturen, das die Grenzen des Sagbaren möglichst so streift, dass man als Aussprechender nicht dingfest gemacht werden kann, dass aber jeder, der es wissen will, weiß, was gemeint ist.
Die Veranstalter haben Angst, dass eines Tages Weißrussland gewinnen könnte
So gewann die ukrainische Sängerin Jamala 2016 das Finale mit dem Lied "1944", das von der traurigen Geschichte ihrer Urgroßeltern handelte, die unter Stalin von der Krim vertrieben worden waren. Man musste kein Politologe sein, um darin einen deutlichen Bezug zu Russlands aktueller Annektierung der Krim zu entdecken. Die Ausrichter ließen das ohne Strafe durchgehen. Schärfer wurde im selben Jahr die Sängerin Iveta Mukuchyan angegangen. Sie trat für Armenien an und war kurz mit einem Fähnchen der zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittenen Region Bergkarabach vor der Kamera zu sehen. Es folgte eine Verwarnung der EBU, verbunden mit der Drohung, Armenien im Wiederholungsfall zu disqualifizieren.
Groß ist die Angst bei den Ausrichtern, dass eines Tages Weißrussland gewinnen könnte, weil man dann den nächsten ESC in der dortigen Diktatur ausrichten müsste. Die Angst davor teilt sich indes bei manchen den Platz mit der Hoffnung, dass Weißrussland gewinnen möge. Weil dann das Land genau jene Regeln beachten müsste wie 2012 Aserbaidschan, das sich ein Jahr zuvor in Düsseldorf die Ehre eingehandelt hatte, den ESC auszurichten.
Das autoritäre System dort zeigte sich sichtbar angespannt, weil die EBU während des ESC auf Garantien für die Bewegungsfreiheit der Künstler, der Journalisten und der Homosexuellen bestand, weil die Hauptstadt Baku sich also für zwei Wochen in eine wirklich weltoffene Stadt verwandeln musste. Das konnten selbst die vielen Polizisten nicht verhindern, die während des Festes an fast jeder Straßenecke postiert waren und deren Blick auf europäisch anmutende Passanten stets die Frage mit sich trug, ob es sich beim Gegenüber nun um einen Terroristen oder einen Schwulen handelt.
Das Regime in Baku musste zudem hinnehmen, dass Oppositionelle von angereisten Journalisten gehört wurden, dass ausführlich berichtet wurde über den Abriss von Wohnbauten und die Vertreibung von Bewohnern, die Platz machen mussten für die ESC-Infrastruktur und eine frisch hochgezogene Protzhalle. Diese Gebäude wurden wegen des ESC abgerissen, aber sie wären wohl auch ohne den Wettbewerb früher oder später der örtlichen Bauwut zum Opfer gefallen. Nur dann eben ohne öffentliche Aufmerksamkeit.
Dass die European Broadcasting Union indes auch nicht die konsequenteste Organisation ist, die nur Gutes tut, zeigt sich gelegentlich in einer allzu freundlichen Behandlung von Regierenden. So durfte in Baku ausgerechnet der Schwiegersohn des Präsidenten als Pausenstar antreten, ein auffälliges Entgegenkommen, das über diplomatische Freundlichkeit hinausging.
Einen der erinnerungswürdigsten Auftritte Deutschlands hatte ausgerechnet Anke Engelke
Aus jenem Jahr ist in Erinnerung geblieben, dass es die deutsche Komikerin Anke Engelke war, die dem Regime über den Bildschirm trotz des Verbots der politischen Botschaft einen Hauch von Kritik übersandte. Als sie vor dem großen Publikum die deutschen Abstimmungsergebnisse verlas, mahnte sie Aserbaidschan, die Sache mit der Demokratisierung bitte ernst zu nehmen. "Es ist gut, eine Wahl zu haben", sagte sie und wünschte dem Land eine gute Reise auf dem Weg dorthin. "Europe is watching you", schob sie nach. Die Botschaft war deutlich: "Du beobachtest dein Volk, wir beobachten dich." Nicht nur die ESC-Welt hat das verstanden.
Die musikalischen Beiträge aus Deutschland konnten da selten mithalten, auch nicht Nicoles Siegertitel "Ein bisschen Frieden", der 1982 trotz eines Seitenblicks auf die Debatte um den Nato-Doppelbeschluss wie ein frommer Wunsch anmutete und an Harmlosigkeit nicht zu überbieten war. Was die Botschaft angeht, rangierte der Titel damit auf einer Ebene mit Stefan Raabs im Jahr 2000 gesungener Gaga-Frage "Wadde hadde dudde da?" Da war man schon mal weiter, etwa 1971, als Katja Ebstein den Titel "Diese Welt" einbrachte und eine Umweltkritik äußerte, die auch Greta Thunberg gefallen hätte: "Rauch aus tausend Schloten senkt sich über Stadt und Land. Wo noch gestern Kinder war'n, bedeckt heut Öl den Strand", sang sie in feinster Ökopop-Manier.
Dass der ESC in diesem Jahr eine Woche vor den Europawahlen stattfindet, ist Zufall, weil der ESC eben immer um die Mai-Mitte herum das Rennen um die berühmten zwölf Punkte eröffnet. Aber es zeigt auch, dass man schon viel weiter ist als die EU, denn zur EBU gehören 56 Länder, die sich zum Austausch von Programmen verpflichtet haben und auch Zaungäste zulassen wie zum Beispiel seit ein paar Jahren die Australier. Selten aber passte eine Terminierung so perfekt wie dieses Jahr, da ein Signal der gemeinsamen Diversität wichtiger erscheint denn je.