ESC-Finale in Wien:Ein Hauch von Nichts

Grand Final - 60th Eurovision Song Contest

Holte 0 Punkte für Deutschland: Ann Sophie.

(Foto: dpa)
  • Gemeinsam trauern: Österreich und Deutschland erhalten beim Eurovision Song Contest jeweils keinen einzigen Punkt. Doch auch die Besserplatzierten überzeugen keineswegs.
  • Denn in Wien wird wieder einmal deutlich, dass der ESC musikalisch vorwiegend auf ganz kleiner Flamme kocht. Nachhaltigkeit ist nicht erwünscht.
  • Für Ann Sophie mag es ein kleiner Trost sein: Ihr Auftritt zählte zwar zu den schwächsten, passt aber ins Gesamtbild.

Von Hans Hoff

Vereint im gemeinsamen Leid

"Da sind wir nun vereint auf dem letzten Platz." Peter Urban, die deutsche Stimme des Eurovision Song Contest, sagt das nicht, der ESC-Veteran seufzt es am frühen Sonntag, eine knappe Stunde nach Mitternacht in sein Mikrofon, bevor der Schwede Måns Zelmerlöw erneut auf die Bühne der Wiener Stadthalle tritt, um noch einmal seinen Song zu präsentieren, den Gewinnertitel des ESC 2015. "Heroes" heißt das Lied, bei dem der Skandinavier sich strahlend im Flitterregen zeigt und mit virtuellen Strichmännchen spielt, die ihm von einer überragenden Lichttechnik an die Seite gestellt werden.

Zu Strichmännchen degradiert fühlen dürfen sich zu dem Zeitpunkt die Teilnehmer aus Deutschland und Österreich. Beide haben am Ende der vierstündigen Veranstaltung exakt null Punkte in der Bilanz stehen. 40 Länder haben abgestimmt, und fast alle Teilnehmer haben Punkte bekommen. Selbst die müden Beiträge aus England und Frankreich durften sich über Trostpunkte freuen. Nur eben Deutschland und Österreich nicht. Die sind nun vereint im gemeinsamen Leid, sich nicht einmal gegenseitig mit Punkten bedacht zu haben.

All die Aufregung war vergebens

Es liege bestimmt nicht an Ann Sophie, sagt Urban, der das alles nicht fassen kann, der die deutsche Kandidatin danach versehentlich Ann Marie nennt. Dass einem Profi wie Urban so etwas passiert, zeigt, wie groß die Enttäuschung sein muss, dass die ganze Arbeit, die von der deutschen Delegation in den vergangenen Monaten geleistet wurde, für die Katz war. All die Aufregung, die es gab, weil Andreas Kümmert, der eigentliche Sieger des deutschen Vorentscheids sein Ticket zum ESC nicht wollte und es an die Zweitplatzierte Ann Sophie weitergab, alles vergebens. Ein Witzbold twittert dazu, Deutschland und Österreich hätten sich ein gnadenloses Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert. Nur eben ganz hinten.

Dabei spielte sich das wahre Kopf-an-Kopf-Rennen ganz vorne ab. Dort sah es nicht von Anbeginn der Auszählung so aus, als würde Schweden als Sieger durchs Ziel gehen. Sehr lange hatte der russische Beitrag die Nase vorn. Erst als England als 27. von 40 Ländern abstimmte, überholte der Helden-Schwede die Russin Polina Gagarina und erlöste viele Freunde des ESC von dem bis dahin bedrohlichen Gedanken, 2016 zum Feiern nach Moskau reisen zu müssen.

Bekanntlich ist der ESC immer auch ein großes Fest der Gay-Community, und die zählt Russland nunmal nicht zu ihren bevorzugten Reiseländern. Dann doch lieber nach Schweden, also in das Land, das den ESC nun schon sechs Mal gewonnen hat und das erst vor zwei Jahren in Malmö ein sehr schönes, sehr freies Schlagerfest ausgerichtet hat.

Musikalisch auf kleiner Flamme

Vielleicht wird eine der weltweit größten Musikshows im Fernsehen dann ja wieder eine freudvollere Veranstaltung als in diesem Jahr. Zu deutlich wurde in Wien, dass der ESC musikalisch vorwiegend auf ganz kleiner Flamme kocht. Nachdem es im vergangenen Jahr mit dem Sieg von Conchita Wurst so etwas wie ein kollektives Erweckungserlebnis gegeben hatte, präsentierte sich die Show nun wieder als das, was sie in den meisten müden Jahren war, eine beliebig wirkende Aneinanderreihung von mehrheitlich lauwarmen Liedern, deren musikalische Substanz jenseits der ESC-Bühne kaum noch nachweisbar scheint.

Das fällt vor allem auf, wenn man all die Lieder mal nur hört. Ohne Bilder dazu. Das ist pure Schwerstarbeit. Natürlich merkt man davon weder in der Halle und auch vor dem Fernseher nichts, denn das musikalische Defizit wird ausgeglichen durch eine Show, die alles zu bieten hat, was Stand aktueller Technik ist. Eine Leistungsschau der lichtverarbeitenden Industrie hat ein kluger Kopf den ESC mal genannt und damit einen Punkt getroffen. Die Techniker des ESC könnten mit ihrer überragenden LED-Technik auch "Alle meine Entchen" zum spektakulären Event hochjazzen.

Da zerbrechen antike Städte im Hintergrund, wirbeln Schneeflocken wie wild, brennen Flügel lichterloh, und wenn es sein muss, wird aus der Handbewegung eines Sängers ein kleines Feuerwerk. Das wird jedes Jahr perfekter, weshalb der eigentliche Sieger in jedem Jahr der gleiche ist: Die großartige Bühne.

Tränen auf Kommando

Auf der standen in diesem Jahr erstaunlich viele Frauen reglos herum, übten sich in einer Art Stehtanz. Manche wirkten in ihren bodenlangen Kleidern wie gerade aus dem Boden geschossene Vulkankegel, die jederzeit Feuer speien könnten, andere traten als Hexendouble oder Wolfsverscheucherin auf. Dazu gab es auf Kommando viele Tränen, entweder auf dem Gesicht der jeweiligen Protagonistin oder auf dem LED-Hintergrund, alles bewegt von sturmartigen Kräften. Manche nennen eine durchschnittliche ESC-Veranstaltung deshalb auch gerne mal "viel Windmaschine um nichts".

Wären die Lieder so tiefgründig wie die Dekolletees, die in diesem Jahr vorzugsweise bis auf Bauchnabelhöhe geöffnet wurden, könnte man dem ESC durchaus Substanz bescheinigen. Aber an Substanz ist beim ESC bekanntlich niemand interessiert. Dieser Wettbewerb ist für den schnellen Verzehr gedacht. Nachhaltigkeit kann hier niemand gebrauchen. Nachhaltigkeit würde die Folgeveranstaltung im kommenden Jahr nur stören.

Ann Sophie strengt sich ehrlich an

Vergessen wird man daher auch sehr bald den Auftritt von Ann Sophie. Im schwarzen Kostüm versuchte sie sich ein wenig zwischen geheimnisvoller Catwoman und einer drittklassigen James-Bond-Girl-Kopie einzupendeln und hielt dabei ein paar Sekunden zu lang ihren Hintern in Richtung Kamera. Sie strengte sich ehrlich und sichtlich an, ja doch, aber ihr Auftritt konnte nicht davon ablenken, dass ihr Lied "Black Smoke" tatsächlich zu den schwächsten im Wettbewerb gehörte.

Letztlich aber passte das zur Gesamtvorstellung in Wien. Der ESC 2015, das war ein Platz, an dem viele schlechte Lieder aus ganz Europa vorübergehend Asyl fanden. Nun, nachdem die Show vorüber ist, vagabundieren sie wieder frei durch die Welt, und es ist damit zu rechnen, dass sie so manches Radio heimsuchen könnten.

In Sachen Belanglosigkeit machen auch die Erstplatzierten keine Ausnahme. Nicht nur Schweden, Russland und Italien haben als Spitzentrio wenig zu bieten, auch hochplatzierte Titel wie die von Belgien und Australien sind letztlich nur kalkulierte Songkonstruktionen, die ohne die visuelle Unterstützung einer großartigen Technik in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus im Sturm.

Für Ann Sophie mag das ein Trost sein, die Erkenntnis, das zwischen dem Erst- und dem Letztplatzierten nicht so viel Abstand liegt wie es die Punktzahlen vermuten lassen. Letztlich gilt doch: Auch ein aufgeblasenes Nichts bleibt ein Nichts.

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