Erste europäische Netflix-Eigenproduktion:"Denver Clan" auf Französisch

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Intimfeinde: Lucas Barrès (Benoît Magimel, links) hat Robert Taro (Gérard Depardieu) viel zu verdanken, Loyalität jedoch lässt er vermissen.

(Foto: David Koskas/Netflix)

Gérard Depardieu ist wieder da - als Schauspieler, nicht als Wahlrusse: In der Netflix-Serie "Marseille" kämpft er als Bürgermeister der französischen Hafenstadt gegen seinen früheren Protegé.

Von Karoline Meta Beisel

Es ist lange her, dass man nicht als Erstes an innige Umarmungen mit Wladimir Putin dachte, wenn die Sprache auf Gérard Depardieu kam. Aber der 67-Jährige war mal Frankreichs beliebtester Schauspieler. Zuletzt war er vor allem Frankreichs unbeliebtester Steuerflüchtling. Doch jetzt macht es den Eindruck, als könnte Depardieu kurz vor der Rente noch einmal einen Lauf haben. In Valley of Love spielte er gerade einen schwitzenden, stöhnenden Mann namens Gérard (!), wurde mit Lob überhäuft. Und mit seinem neuesten Werk traut man ihm gar zu, noch einmal ein Millionenpublikum zu erreichen.

In der Fernsehserie Marseille spielt Depardieu den altväterlichen Bürgermeister Robert Taro, der kurz davor ist, sich nach 25 Jahren im Amt in den Ruhestand zu verabschieden. Ganz entspannt sieht er der Rente entgegen, hat er mit seinem Protegé Lucas Barrès (Benoît Magimel) doch längst einen scheinbar geeigneten Nachfolger in Stellung gebracht. Aber wie heißt es in der Marseillaise, der französischen Nationalhymne, die in den ersten Einstellungen der ersten Episode zu hören ist? "Le jour de gloire est arrivé", der Tag des Ruhmes ist gekommen. Barres fällt Taro in den Rücken, just in dem Moment, als der seine Amtszeit mit einem großen Stadtentwicklungsprojekt krönen will.

Als "französisches House of Cards" angekündigt, will Marseille nun "keine Politikserie" mehr sein

Als der US-Streamingdienst Netflix vor zwei Jahren Marseille als erste europäische Eigenproduktion ankündigte, wurden die Beteiligten nicht müde, das Projekt als "französisches House of Cards" zu bewerben. Heute will davon keiner mehr etwas wissen. "Das ist keine Politikserie. Wir erzählen eine menschliche Geschichte, sie spielt nur in einem politischen Umfeld", sagt Drehbuchautor Dan Franck. "Marseille ist auch eine Familiengeschichte", sagt Regisseur Florent Emilio-Siri. Man könnte auch sagen: eine Soap, ein französischer Denver Clan. Was ja aber auch eine erfolgreiche Serie war.

Dass es okay ist, wenn Fernsehunterhaltung einfach nur unterhaltsam ist, das ist in den vergangenen fünf, sechs Jahren, dem güldenen Fernsehzeitalter, irgendwie in Vergessenheit geraten. So erzählt zwar auch Marseille über acht Folgen eine lange Geschichte wie die modernen Klassiker aus den USA. Mit Breaking Bad hat Marseille ansonsten aber nur gemein, dass es auch um Dealer geht; mit Game of Thrones, dass viel gevögelt wird: auf Schreibtischen, auf Terrassen, im Meer ("Liebe machen" passt in dieser Serie nur ganz, ganz selten).

Netflix braucht die Massen

Aber Netflix braucht eben nicht nur das superintellektuelle Avantgardepublikum, sondern vor allem die Massen. Erst recht, seit der Dienst nach der Expansion im Januar in 190 Ländern, also praktisch auf der ganzen Welt, nutzbar ist und den letzten veröffentlichten Zahlen zufolge 75 Millionen Abonnenten glücklich machen muss. Da dürfte die Verpflichtung von Depardieu umso wichtiger gewesen sein.

Unterhaltsam jedenfalls ist die Geschichte. Depardieus alternder Taro platzt fast aus seinem Anzug, keucht und kokst. Aber er ist ein friedfertiger Geselle, der gerne anzügliche Sprüche macht ("Meine Frau mag keine Hüllen fürs Handy. Sie sagt, das verdirbt den ganzen Spaß"). Er verehrt seine Frau und die erwachsene Tochter, die sich West-Side-Story-mäßig in einen jungen Migranten, einen Dealer, verliebt. Taros Leidenschaft aber gilt seiner Stadt, Marseille. Auch das unterscheidet Marseille von House of Cards - Taro ist der Anti-Underwood.

"Aber nicht Marseille!"

Regisseur Florent Emilio-Siri zeigt die schönen Seiten, das türkisfarbene Mittelmeer, die Villen und Lofts der reichen Leute - immer wieder aber auch jene Ecken, die der Hafenstadt einen zumindest zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Emilio-Siri bewegt sich wie selbstverständlich in diesen Gegenden. Er kennt sie auch schon lange, hat er in Marseille doch früher Musikvideos für Rapper wie IAM und Wu Tang Clan gedreht. "Ich habe Freunde dort und mit denen geklärt, dass wir da drehen können", sagt er.

In Frankreich sind die Kritiken schlecht bis vernichtend - unfair: Marseille ist gute Unterhaltung

Wenn Barrès sich in die von Einwanderern geprägten Viertel wagt, dann um Stimmen zu kaufen oder sonst wie krumme Sachen zu machen. Er ist schmierig und korrupt bis unter die gezupften Augenbrauen und neigt zu theatralischen Auftritten. Als Taro ihm vorwirft, er verrate ihn und die Stadt, antwortet er: "Sie vielleicht." Dramatische Pause. "Aber nicht Marseille!" Manchmal sitzt er auch grübelnd an seinem Schreibtisch und betrachtet eine weiße Maske, von der immer nur eine Hälfte zu sehen ist, während die andere im Schatten verborgen bleibt. Subtil geht anders.

In Frankreich sind die ersten Reaktionen auf Marseille dementsprechend schlecht bis vernichtend. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass dort die Ansprüche besonders hoch sind: Mit der Mystery-Geschichte Les Revenants und den Copserien Engrenages und Braquo sind dort in der jüngeren Vergangenheit immerhin schon mehrere Serien entstanden, die sich auch international gut verkauft haben. Das Urteil jedenfalls ist unfair: Von Depardieu und Magimel kann man sich ganz wunderbar unterhalten lassen.

Das werden sich auch die Verantwortlichen von TF 1 gedacht haben, dem größten französischen Fernsehsender. Eine Woche nach der Premiere bei Netflix werden die ersten beiden Folgen von Marseille auch dort zu sehen sein, zur allerbesten Sendezeit um 20.55 Uhr - ein ungewöhnlicher Deal, über den sich beide Parteien freuen dürften: Netflix wegen des immensen Werbeeffekts, die anderen sechs Folgen laufen bei TF 1 nämlich vorerst nicht; aber auch der Sender, weil Depardieu nun mal Depardieu ist und eine Spitzenquote bringen dürfte.

Trotzdem ist das Arrangement natürlich einigermaßen lustig: Es ist ja kein Geheimnis, dass Netflix mit seinem Allzeit-bereit-Angebot an der Abschaffung des linearen Fernsehens werkelt, mit dem TF 1 sein Geld verdient. Vielleicht geht die Sache für Netflix aber auch nach hinten los: Wenn das Publikum merkt, dass dort Sachen zu sehen sind, die genauso auch im Fernsehen und den Mediatheken laufen könnten - warum dann eigentlich noch Abonnent werden?

Marseille, acht Folgen, abrufbar auf Netflix.

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