Süddeutsche Zeitung

Türkei:Erdoğan will soziale Medien scharf kontrollieren

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Die Ankündigung kommt, nachdem die Tochter des Staatschefs über Twitter beleidigt wurde.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Weil seine Tochter auf Twitter beleidigt worden ist, will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die sozialen Medien scharf kontrollieren und einzelne Plattformen wegen Unmoral in der Türkei "komplett verbieten". Erdoğans Tochter Esra hatte über Twitter die Geburt ihres vierten Kindes bekannt gegeben, im Anschluss wurden sie und ihr Ehemann Berat Albayrak von anonymen Usern unter Anspielung auf angebliche Beziehungsprobleme des Ehepaares massiv beleidigt. Der Präsidenten-Schwiegersohn ist türkischer Finanzminister. Erdoğans Reaktion war harsch: "Versteht man nun, warum wir gegen Social-Media-Plattformen wie Youtube, Twitter und Netflix sind? Weil wir diese Unmoral beseitigen wollen", erklärte er. "Sie sind unmoralisch." Der Präsident, der rasche Gesetzesänderungen ankündigte, ging noch weiter. Er rückte die User in die Nähe des Terrorismus: "Wir akzeptieren nicht, dass 83 Millionen Bürger sich gegen den Terror der sozialen Medien nicht wehren können."

In der Türkei spielen soziale Medien - vor allem Twitter - eine enorme politische Rolle als Plattform jeder Art von Opposition. Die freie Medienlandschaft ist von der Regierung nach dem gescheiterten Staatsstreich 2016 zerschlagen worden: Seit dem Putschversuch wurden 119 TV-Sender, Zeitungen, Magazine, Nachrichtenagenturen und Radiostationen geschlossen. Zahlreiche Journalisten wurden inhaftiert oder sind ins Ausland geflohen. Obwohl auch die Regierung die sozialen Medien erfolgreich nutzt - Präsident Erdoğan hat auf Twitter 16 Millionen Follower - bleiben die Plattformen das kaum kontrollierbare Terrain jeder organisierten oder spontanen Opposition. Wie in anderen Staaten manipulieren auch in der Türkei Trolle die Öffentlichkeit und verbreiten Fake News.

Auch wenn die öffentliche Beleidigung seiner Tochter und damit der gesamten Familie für Erdoğan ein starkes Motiv sein dürfte - ein Verdächtiger wurde bereits festgenommen - steht hinter der Ankündigung einer Offensive gegen Twitter und andere womöglich ein klares politisches Kalkül: Erst vor wenigen Tagen musste der Staatschef persönlich erleben, wie schnell und offenbar spontan sich die Opposition zu Hunderttausenden digital organisieren lässt. Anlass war ein Video-Dialog mit Studenten: Aus Protest gegen die erneute kurzfristige Vorverlegung des Eingangsexamens für die Universitäten wegen Corona twitterten Studenten während der Präsidentenrede unter dem Hashtag: "Unsere Stimmen kriegst du nicht." Das Presseamt musste die Kommentarfunktion während der Ansprache notgedrungen schließen, auf Youtube bekam das Video mit dem Präsidenten und den Studenten 368 000 Dislikes. Auch der Versuch, die eigene Basis zu mobilisieren, scheiterte: Die Youtube-Likes blieben bei 107 000 stecken.

Versuche, das Internet politisch zu kontrollieren, gibt es in der Türkei seit Langem, jüngst hatte die Erdoğans Regierung unterstützende rechte MHP vorgeschlagen, allen Usern eine Art Ausweisnummer aufzuzwingen. Der Vorfall mit den Studenten zeigt aber exemplarisch, wie schnell sich politischer Widerstand auch ohne freie Medienlandschaft unter griffigen Hashtag-Parolen landesweit formulieren lässt: "Unsere Stimmen kriegst du nicht" ist die perfekte Wahlkampfparole. Und das in Zeiten, in denen der seit knapp 20 Jahren regierende starke Mann der Türkei wegen der schlechten Wirtschaftslage spürbar an Zustimmung verliert.

Mit den von Erdoğan angekündigten Gesetzesänderungen will die Führung aber nicht nur gegen einzelne User vorgehen. Betreiberfirmen sozialer Medien wie Twitter sollen verpflichtet werden, Niederlassungen in der Türkei zu gründen: Dann unterlägen sie der türkischen Rechtsprechung - und könnten so für jeden Tweet juristisch zur Verantwortung gezogen werden.

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