Menschen, die betrügen, sind nicht per se unsympathisch. "Das System austricksen" kann einen gewissen Charme beinhalten, wenn man daran glaubt, dass das System es verdient, ausgetrickst zu werden. Meistens gibt es ja auch einen Grund, warum Betrüger so lange damit davonkommen: Weil sie eine außergewöhnliche Ausstrahlung haben, intelligent sind, charismatisch. Unter den Opfern des Theranos-Betrugs aber wären auch Menschen gewesen, die krank sind. Deswegen wird Elizabeth Holmes, die Gründerin des Biotech-Unternehmens, heute auch nicht als charmante Trickserin oder gar als Heldin porträtiert. Der Podcast The Dropout, der neue HBO-Dokumentarfilm The Inventor und John Carreyrous Buch "Bad Blood", das gerade auf Deutsch erschienen ist, zeigen Holmes stattdessen vor allem als eine, die eine gute Geschichte notorisch an der Wahrheit vorbei erzählte.
Die Geschichte, die sie ihrem Publikum anbot, war bestechend: Mit 19 Jahren gründete Holmes Theranos aus ihrem Zimmer im Studentenwohnheim in Stanford. Unterstützt von ihrem Mentor, dem Professor Channing Robertson, sollte das Unternehmen eine medizinische Revolution einleiten. Die Idee: portable Geräte, die Blut mit nur einigen Tropfen auf Krankheiten testen, ganz ohne Kanülen. Und das zu einem Bruchteil der Kosten herkömmlicher Bluttests. Eine willkommene Innovation, denn wer lässt sich schon gern Nadeln in Venen stecken? Theranos hätte den Markt der medizinischen Diagnostik revolutioniert. Hätte die Technologie funktioniert.
Islam und Mode:Eine Modeausstellung? Schön wär's!
"Contemporary Muslim Fashions" in Frankfurt will einfach nur muslimische Kleidung zeigen, muss aber geschützt werden. Es gab Drohungen von Rechten - und Proteste von Feministinnen.
Seit der investigative Journalist John Carreyrou im Oktober 2015 mit einer Reportage im Wall Street Journal begann, den Betrug des Unternehmens zu enthüllen, lässt die Geschichte um Theranos die öffentliche Imagination nicht los. Sein Buch "Bad Blood" erzählt nun nach, wie Holmes seit 2003 Investoren, eigene Mitarbeiter und die Öffentlichkeit hinterging, mehrere hundert Millionen US-Dollar an Investments verlor und dabei bis zu ihrer Anklage die gleiche Geschichte erzählte: Das wird noch. Wer "Bad Blood" liest, versteht jedoch schnell, dass das nie hätte werden können. John Carreyrou lässt die wichtigsten Akteure innerhalb der Firma zu Wort kommen. Sie schildern, wie sie bemerkten, dass Elizabeth Holmes versprach, was die von ihr entwickelten Geräte nicht einhalten konnten - und wie Holmes Zweifler aus ihrem Team entfernte. So beschreibt Carreyrou, wie Holmes ihr Testgerät potenziellen Investoren in der Schweiz live vorführte. Das Gerät, das sie "Edison" nannte, funktionierte aber nicht, hatte auch nie zuverlässig funktioniert, weswegen Mitarbeiter die gefälschten Testergebnisse aus der Zentrale in Kalifornien per Mail schickten. Die Investoren waren begeistert, die Mitarbeiter beschämt. Als der Finanzdirektor Henry Mosley seine Chefin Holmes darauf ansprach, antwortete sie: "Henry, Sie sind kein Teamplayer." Er wurde auf der Stelle gefeuert.
Doch Holmes entledigte sich nicht nur derer, die an ihr zweifelten, sie umgab sich vor allem mit denen, die sie verehrten. Das zeigt der Oscar-prämierte Dokumentarfilmer Alex Gibney in seinem neuen Film The Inventor. Holmes' Aufstieg verortet er innerhalb der Logik des Silicon Valley und seiner "Fake it till you make it"-Mentalität, die Ambition mehr schätzt als Produkte und die dazu verleitet, nicht so genau hinzuschauen, wenn der Hype nur groß genug ist. Und Holmes wusste, diesen Hype zu nähren. Als junge, konventionell attraktive Frau mit außergewöhnlich tiefer Stimmlage, eisblauen, scheinbar nie blinzelnden Augen und einem unerschütterbaren Selbstbewusstsein inszenierte sie sich nicht nur als Tech-Genie in der Tradition eines Steve Jobs, sondern auch als feministisches Vorbild, als eine Frau, die es in Silicon Valleys Boys' Club gegen alle Widerstände geschafft hatte. Ihre Unterstützer waren dabei vor allem Männer, ältere, sehr einflussreiche Männer, deren Macht sie um sich legte wie ein Schutzschild. Zu ihrem Aufsichtsrat gehörten die ehemaligen US-Minister Henry Kissinger, James Mattis, und George Shultz; der Verleger Rupert Murdoch war ein früher Investor; Vizepräsident Joe Biden kam für eine Führung vorbei; Ex-Präsident Bill Clinton befragte sie auf einer Tagung seiner Stiftung.
Denn auch das zeigt Gibneys Dokumentarfilm: Viele selbstsichere Männer, die von sich behaupten, Genie aufspüren zu können, die Holmes mit Thomas Edison oder Leonardo da Vinci vergleichen und selbst heute nicht ohne Ehrerbietung von ihr sprechen. Holmes beschworene Anziehungskraft wird in den Nacherzählungen allerdings nicht greifbar. Ihr Gesicht begegnet dem Zuschauer in polierten Filmaufnahmen, die Theranos zur Vermarktung nutzte, oder in Mitschnitten von Konferenzen. Gibney nutzt außerdem die Audio-Aufnahmen des Reporters Ken Auletta, der Holmes 2013 für den New Yorker porträtierte. Mit ihrem tiefen Organ trifft sie in diesem Material eine vage, phrasenhafte Aussage nach der anderen, bleibt reserviert, ernst und zurückhaltend. Das ihr zugeschriebene Charisma bleibt Hörensagen.
"Ihre Story", sagt Auletta, "war so unwiderstehlich." Man ist geneigt zu fragen, ob das nicht weniger an Holmes selbst lag als an der Empfänglichkeit für ihre Story. Vielleicht wollte man ihr nicht widerstehen. Holmes erscheint so mehr als Regel denn als Ausnahme, als eine, die das System nutzte, nicht als eine, die es hinterging. Nach hunderten von Millionen verlorener Dollar, dutzenden Magazincovern und dem obligatorischen TED-Talk entpuppt Elizabeth Holmes sich nicht als die Heldin, die das Silicon Valley suchte. Aber vielleicht doch als die Heldin, die es verdiente.