Süddeutsche Zeitung

TV-Kritik: Anne Will:Nicht schlecht, Herr Precht!

Anne Will hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, wann immer möglich über den Frust des Volks an der Politik reden zu lassen. In dieser Lage kann nur ein Fernsehphilosoph helfen, der mehr schreibt als Sarrazin.

Melanie Ahlemeier

Für Richard David Precht (neuestes Buch: Die Kunst, kein Egoist zu sein) fühlt es sich bekanntlich gut an, gut zu sein. Diese Haltung kann einen immer wieder in die Arme von Anne Will treiben, der Sonntagstalkerin der ARD auf Abruf, die sich seit einiger Zeit in allen möglichen Variationen an dem Thema Volksvertreter ohne Volk abarbeitet. Precht also war wieder da, aber dazu später.

Die Sendung an diesem Oktober-Sonntag ist so gut wie gelaufen, 45 Minuten sind schon vorbei, da darf auch der alte Mann auf dem Sofa mal zu Wort kommen. Endlich.

Es spricht, nein, es monologisiert nahezu ungestört: Heiner Geißler, Stuttgart-21-Schlichter und seit dem Wochenende Deutschlands neuer Basta-Mann. Moderatorin Anne Will gewährt ihm ein gefühltes siebeneinhalb-Minuten-Solo, und Geißler beschreibt wortreich seine Stuttgarter Bahnhofsmission - wie schon seit Tagen. Befürworter und Gegner des unterirdisch teuren Bauwerks sollten "auf Augenhöhe und an einem Tisch" miteinander das Gespräch finden. "In jeder Phase der Realisierung muss man es den Leuten erklären." Und: "Die Menschen glauben uns nicht mehr, dass wir in der Lage sind, das Problem zu lösen", fasst der 80-Jährige die Lage im Ländle in Worte.

Seit gut einer Woche macht Geißler - mal wieder - den Schlichter vom Dienst, seit dem Wochenende mit einer Botschaft: "Staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger gehören dem vorherigen Jahrhundert an." Hoppla, mag sich mancher am Sonntagmorgen beim Hören der Nachrichten verwundert gefragt haben: Lässt Geißler Schlichtung Schlichtung sein? Vergisst er seine qua Amt erforderliche Neutralität und schlägt sich vorzeitig auf die Seite der Gegner?

Der Zoff um das mit mehr als vier Milliarden Euro veranschlagte Bahn-Prestige-Projekt hat Baden-Württemberg in eine Krise gestürzt; Deutschland diskutiert mit. Und da ist die vom Buchautor Thilo Sarrazin angefachte und von Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer angeheizte Integrationsdebatte. "Parolen für den Stammtisch - Gewinnen so Politiker Vertrauen zurück?", wollte darum Anne Will von ihren Gästen wissen. Schnell wurde klar: Das Thema ist zu komplex für eine einfache, auf 60 Minuten begrenzte Sendung. Das Niveau der Fernsehdiskussion ist kaum zivilisierter als an einem x-beliebigen Stammtisch.

Stammtisch-Redner mit Tendenz zur Schnappatmung

Besonders auffällig: Renate Künast, grüner Debatten-Star vom Dienst, und Seehofer-Verteidiger Joachim Herrmann von der profilierungssüchtigen CSU werden in diesem Leben keine Stammtischfreunde mehr. Bayerns Innenminister agiert an diesem Fernsehabend gereizt. "Demokratie braucht starke politische Führung", redet er sich in Rage. Mehrfach fährt der Christoziale seiner Sitznachbarin Künast über den Mund. "Dass wir zu viele haben, die nicht integriert sind", weiß der Mann mit Tendenz zur Schnappatmung ebenso wie: "Multikulti ist gescheitert". Das ist derzeit der Evergreen der Konservativen und taugt auf jedem Unionskonvent für einen Applaus.

Renate Künast kann sich nicht halten, alle Alarmglocken leuchten rot: "Nein!, nein!", schreit sie professionell entrüstet, just als Herrmann das Wort "gescheitert" ausspricht. Dabei hatte die CSU in Bayern von jeher eine ganz andere Auffassung von Multikulti als die Grünen. "Jetzt sagen Sie doch mal, was Sie tun wollen", sprüht Künast Gift in Richtung Herrmann.

Neue Argumente? Finden beide nicht. Allerdings philosophiert die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag schon in bester Soziologen-Manier von "Versimplifizierung" und "Komplexität". Und: Für die Grünen stehe fest, dass Stuttgart 21 nicht gebaut werde. Das sei schließlich eine "Frage von Glaubwürdigkeit".

Mit starkem Polit-Vokabular kennt sich Fritz Goergen aus, der vor einigen Jahren aus wahlkampftaktischen Gründen Guido Westerwelle eine 18 unter die Schuhsole klebte und außerdem einem der größten Populisten der Liberalen, Jürgen Möllemann, beim Stimmenfang half. Doch in der Diskussion in Berlin-Adlershof an diesem Sonntag kann Goergen kaum punkten. Einzig seine Bestandsaufnahme der Grünen sitzt: "Sie machen zur Zeit nichts falsch", beschreibt er das phantastische Abschneiden der Künast-Truppe in jeder Umfrage.

Die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, die möglicherweise schon bald Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit beerben könnte, lächelt milde und schweigt sich lieber aus.

Auch Roger Köppel, Chefredakteur und Verleger der rechtskonservativen Schweizer Weltwoche und einige Jahre lang mal Meinungsmacher von Welt beim Axel Springer Verlag, betreibt Ursachenforschung. Sein Fazit an diesem Fernsehabend: Die Abgehobenheit der repräsentativen Demokratie sei schuld an der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Das hat man bei Anne Will schon öfter gehört in den vergangenen Wochen. Aber Köppel ist ja schließlich auch ein Stammgast.

Und das gilt erst recht für Richard David Precht. Er analysiert die Unzufriedenheit im deutschen Volk bis zum Exzess. Der telegene Philosoph, ein Bernard-Henri Lévy für Deutsche, scheint inzwischen auf dem Anne-Will-Talkshow-Stuhl festgewachsen zu sein. Wenn Renate Künast die Königin der Talkshow-Auftritte ist, dann ist der Wer-bin-ich-und-wenn-ja,-wie-viele-Autor das Orakel vom Adlershof.

Precht analysiert - wie es sich für einen promovierten Germanisten gehört - von der Metaebene aus. "Es kann nicht Aufgabe von Populismus sein, Vorurteile zu verstärken", weiß er zu Beginn der Anne-Will-Sendung. Mittendrin wirft er Thilo Sarrazin, dem Rechtsschreiber des Buches Deutschland schafft sich ab, Zündelei vor. Und am Ende der Talkstunde steht für Precht fest: "Man muss die Menschen ernst nehmen, wir brauchen einen Volksentscheid."

Eine eigene Sendung für Precht - direkt nach der Tagesschau

Ganz klar: Der eloquente Volksversteher, der bei Anne Will streckenweise die Rolle des fragenden Moderators übernimmt, braucht endlich eine eigene Sendung. In der PED-Show ("Precht erklärt Deutschland") oder wahlweise auch DSDS ("Deutschland sucht den Supervisor", direkt im Anschluss an die Tagesschau) erläutert der Fernsehphilosoph mit soziologischem Fachvokabular den Zustand dieser Republik.

Ja, und falls Heiner Geißler, das Mitglied von Attac, zu den Stuttgart-21-Gegnern wechseln sollte, dann könnte Richard David Precht vielleicht einfach das Amt des Schlichters übernehmen.

Es ist gar nicht so schwer, gut zu sein. Vor allem bei Anne Will.

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