"Dopesick" bei Disney+:Eine amerikanische Tragödie

Streaming zum Mitreden: ´Dopesick"

Steht zwischen der Pharmaindustrie und seinen Patienten: Michael Keaton als Landarzt in West Virginia.

(Foto: Antony Platt/dpa/Disney Plus)

Die andere Epidemie: In "Dopesick" spielt Michael Keaton einen Arzt inmitten der amerikanischen Opioid-Krise.

Von Annett Scheffel

Im echten Leben haben in der Opioid-Krise bereits eine halbe Million Menschen ihr Leben verloren. In "Dopesick" beginnt die Erzählung dieser amerikanischen Tragödie ganz leise in einem halbdunklen Raum. Richard Sackler erläutert mit diabolisch flüsterndem Tonfall seine große Vision. Um ihn herum eine kleine Gruppe mächtiger Männer auf thronartigen Designer-Stühlen. Natürlich tragen sie Ascotkrawatten. "Es ist Zeit, das Wesen des Schmerzes neu zu definieren", sagt Richard, der Erbe des Familienkonzerns Purdue Pharma. Ein neues Medikament - "das größte seit Penicillin" - soll die Amerikaner von einem vernachlässigtem Leid befreien: chronische Schmerzen. Und natürlich der Firma einen gewaltigen Profit bescheren.

Es ist eine so naheliegende wie effektive Einleitung, mit der die neue Mini-Serie von Drehbuchautor und Showrunner Danny Strong die Geschichte des Schmerzmittels Oxycontin in Gang setzt. In acht Episoden erzählt er mit namhaftem Cast von dieser "anderen", menschengemachten Epidemie, die 1999 begann und in den USA bis heute unvermindert grassiert. In den vergangenen Jahren ist viel und ausführlich darüber berichtet worden: 2018 erschien in den USA Beth Macys Buch "Dopesick", an das die Serien angelehnt ist. Bereits im Jahr zuvor hatte der New Yorker Recherchen von korrupten Strukturen, haarsträubender Profitgier und bewusster Verschleierung veröffentlicht. Denn vermarktet wurde Oxycontin als Medikament mit verschwindend geringem Suchtpotential, was sich als glatte Lüge herausstellte. Im Frühling erschien eine detaillierte HBO-Dokumentation von Alex Gibney mit dem Titel: "The Crime of the Century" - das Jahrhundertverbrechen.

Das Steinkohlegebiet von West Virginia ist fruchtbarer Boden für die große Schmerzmittel-Vision

Strongs Serie beleuchtet den Fall nun in einer fiktionalisierten Hollywood-Version für ein breiteres Publikum: eine emotionalisierte, ja, auch didaktische, aber gut verdauliche Hochglanz-Erzählung der Opioid-Krise. Vielleicht ist das nicht besonders originell, aber eindrücklich. Und genau dieser Zugang ist wichtig für die weitere Aufarbeitung. Zumal sich die Serienmacher bemühen das komplexe Geflecht der verschiedenen Perspektiven abzubilden. "Dopesick" funktioniert als Panorama der sich nach und nach ausbreitende Katastrophe: In Vor- und Rückblenden sehen wir abwechselnd Pharmabosse, Verkaufsvertreter, Ärzte (die naiven und die gewissenlosen), Konsumenten, Drogenermittler und Staatsanwälte. Ab und an unterbrechen die vielen Zeitsprünge zwar den dramaturgischen Fluss, zeigen aber dafür, wie die Krise an verschiedenen Stellen des Systems wirkte.

Im Mittelpunkt einer Zeitebene in den Neunzigern steht Dr. Finnix, ein seelenguter Kleinstadtarzt, der alle seine Patienten persönlich kennt und allumfassend behandelt - von kaputter Schulter bis zu ausbleibender Periode. Dargestellt wird er von Michael Keaton, der die Serie mitproduziert hat und als freundlicher, fragiler Jedermann hier wie immer exzellent ist. Die Gemeinde von Dr. Finnix im Steinkohlegebiet von West Virginia ist fruchtbarer Boden für die große Schmerzmittel-Vision von Richard Sackler (Michael Stuhlbarg): Hier herrschen Armut, soziale Verunsicherung und viel Schmerz durch die vielen Arbeitsunfälle in den Minen. Bei der jungen Bergarbeiterin Betsy (Kaitlyn Dever) ist es der Rücken, der den Alltag zur Hölle macht. Unglücklicherweise taucht genau in diesem Moment Billy (Will Poulter) in der Arztpraxis auf. Erst plauscht der aalglatte Pharmavertreter mit dem Doktor übers Angeln und lässt ihm dann das neue Wundermedikament zur Probe da. Ein erster von vielen weiteren Besuchen, jedes Mal bewaffnet mit verdrehten Wahrheiten und Marketing-Kniffen, darunter ausgedachte Diagnosen wie "Durchbruchsschmerz" und "Pseudo-Abhängigkeit".

Die beginnende Abhängigkeit, die höllischen Entzugserscheinungen, die immer höhere Dosierung

Die sich Schritt für Schritt - fast wie in Zeitlupe - um Betsy entfaltende Tragödie ist der emotionale Kern von "Dopesick": die beginnende Abhängigkeit, die höllischen Entzugserscheinungen, die immer höhere Dosierung, Ausstieg und Rückfall. Kaitlyn Dever spielt das alles mit schnörkelloser Intensität. Auf einer zweiten und dritten Handlungsebene, die in erprobter Manier von Strafverfolgungs-Formaten wie "Law & Order" funktionieren und der Vermittlung von Hintergründen dienen, ermitteln ein paar Jahre später zwei Bundesanwälte (Peter Sarsgard und John Hoogenakker) und eine Agentin der Betäubungsmittelbehörde DEA (Rosario Dawson).

Eindrücklich ist auch Michael Stuhlbarg in der Rolle als manischer Pharma-Antichrist Richard Sackler. Mit von Zynismus und Minderwertigkeitskomplexen gebeugter Haltung spielt er sich durch die Sequenzen der gefühlskalten Business-Familie hinter der Epidemie. Ärgerlich an diesem Handlungsstrang ist einzig, dass er in Strongs Drehbuch ein wenig zu überzeichnet und einseitig geraten ist: Dem millionenschweren Bösewichten hätte etwas mehr psychologischen Komplexität gut gestanden.

Dopesick, acht Folgen, bei Disney+

Zur SZ-Startseite

Die Serien des Monats Oktober
:Am Limit

Stromausfall in ganz Europa, Kapitalismus als tödliches Kinderspiel und Colin Farrell auf Waljagd. Die Serien des Monats.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: