Dominik Grafs "Lawinen der Erinnerung":Solange wir sterben, leben wir

Wir sehen einen alten Mann im Kampf um seine Erinnerung, die "manchmal lawinenartig und manchmal wie ein Rinnsal kommt". Arte zeigt Dominik Grafs kluges, präzises Essay über den großen Autor und Filmemacher Oliver Storz. Ein Film, der viel über unser Land, über unser Fernsehen und über einen einzigartigen Mann erzählt.

Matthias Brandt

Im Juli des vergangenen Jahres starb der Autor und Filmemacher, starb mein lieber Freund und Mentor Oliver Storz. Oliver war 82, als er starb, und gleichzeitig war er ganz jung. Dass mich mit ihm wichtige Arbeiten verbinden, ist insofern eine Untertreibung, als dass sowohl mein Arbeiten als Schauspieler als auch die sogenannten Stationen dieses Arbeitens ohne ihn anders und keinesfalls besser ausgesehen hätten.

Die SZ, für die der gelernte Journalist Oliver Storz brillante Erinnerungen und luzide Essays verfasste, bittet mich um meine Meinung zu Dominik Grafs Filmporträt über meinen Freund. Bitte sehr: Ich finde, es ist ein ganz und gar erstaunliches Porträt geworden, das es spielend schafft, sich einerseits dem Porträtierten gewachsen zu zeigen, ihm, wie man sagt, gerecht zu werden - das sich aber darüber hinaus als eigenes filmisches Kunstwerk behauptet. Sollte sich unser Subventionsfernsehen mal wieder in Legitimationsnot befinden, wäre es vielleicht eine gute Idee, man bezöge sich auf einen Film wie diesen.

Wir sehen einen alten Mann im Kampf um seine Erinnerung, die "manchmal lawinenartig und manchmal wie ein Rinnsal kommt", wie es im Film heißt. Storz' erzählerischer Impuls, das, worum seine Arbeiten immer wieder kreisten, lag in den letzten Kriegsmonaten; der Fünfzehnjährige war mit seinen Schulkameraden als Kanonenfutter an die näherrückende Front geschickt worden.

Davon, was der letzte Wahnsinn mit diesen Jungs machte und was für Männer sie dadurch wurden, erzählt der Großteil seiner filmischen und schriftstellerischen Arbeiten. Storz' 2007 erschienener autobiografischer Roman Die Freibadclique, von einer Gruppe Jugendlicher handelnd, die sich im letzten Kriegssommer zwischen feuchten Träumen und SS zurechtzufinden versuchen, halte ich für ein Meisterwerk der lakonischen, dabei bewegenden Poesie. Man wird wehmütig beim Gedanken an all die Bücher, die dieser Autor nicht geschrieben hat. Das ist ja etwas, das man vom einen oder anderen Großautor seiner Generation womöglich nicht behaupten würde.

Der Roman bildet auch den Ausgangspunkt und die erzählerische Klammer von Grafs Film. Zu teils dokumentarischem Material, teils vom Kameramann Martin Farkas gedrehten Impressionen hört man Grafs Stimme, aus dem Roman lesend, mit der Präzision, die ihn auszeichnet. Er trifft ins Zentrum der Dinge, auch als Vorleser. Welch ein Kontrast zum spannerhaften Off-Geraune, das heute Standard in vielen Fernsehdokumentationen ist.

Trockene Antworten, heiteres Prusten

Das Zentrum des Films bilden zwei lange Gespräche, die Graf mit Storz führte, das letzte drei Wochen vor dessen Tod. Und so geht es auch um die letzten Dinge. Das ist zutiefst persönlich, aber eben nie sentimental, anwanzend privat, geschweige denn voyeuristisch. Eine so knappe wie große Erkenntnis aus diesen Gesprächen: Solange wir sterben, leben wir. Tot sind wir erst, wenn wir tot sind. Bis dahin lebt, raucht, trinkt, hört, liest, schreibt man. Sieht Filme. Langweilt sich. Stirbt.

Es sind hier, und das ist sehr amüsant anzusehen, zwei im Wortsinne eigenartige, also auch eigenwillige, störrische Regisseure am Werk. Natürlich wusste Storz, dass dieser Film sein Nachruf werden würde, und deshalb entschied er sich, nüchterner Pragmatiker, der er auch immer war, Wesentliches lieber selbst zu sagen, bevor nur Unwesentliches bleibt. Storz wusste, dass Graf wusste. Der Subtext des ganzen Films ist: der Humor. Mehr als einmal prustet Dominik Graf im Off los, nach einer von Storz beiseite genuschelten, extra brut servierten Antwort.

Storz erzählt zum Beispiel eine Episode, die sich während der Dreharbeiten zu seinem Film Drei Tage im April zutrug, in dem eine authentische Geschichte aus den letzten Kriegstagen in Storz' schwäbischer Heimat erzählt wird. Drei Waggons mit Deportierten auf dem Weg ins KZ werden nahe eines Dorfes beim Rückzug der Wehrmacht zurückgelassen. Die teils angstgelähmten, teils moralisch deformierten Dörfler trauen sich aber nicht, die Deportierten frei zu lassen, schieben stattdessen die Waggons aus dem Bahnhof aufs freie Feld, um die Schreie der Sterbenden nicht mehr hören zu müssen. Kurz zuvor hatte Steven Spielberg in Polen mit allen Hollywoodschikanen Schindlers Liste gedreht. So ergab es sich, dass die dortigen Konzentrationslager-Komparsen auch für Drei Tage im April engagiert wurden. Praktisch!

Deren gefühlskinogeschultes Overacting ging Storz mächtig auf die Nerven, weshalb er verzweifelt vor den Waggons stand und immer wieder rief: "Don't act, just look!"

So war das also schon immer

Bei dieser Erzählung schüttelt es nicht nur Graf vor Lachen, sondern auch den Zuschauer, denn das ist schrecklich, irrsinnig, komisch. Und ziemlich kennzeichnend für unseren bekloppten Beruf. Zum Brüllen auch Storz' schlechte Laune bei der Erwähnung seiner Beteiligung am doch eigentlich so herrlichen Sci-Fi-Schrott Raumpatrouille. Dafür hat er sich geschämt bis zum Schluss, was wir, seine Schauspieler, wussten und ausnutzten. Oder sein angeekeltes Gesicht beim Aussprechen des Wortes "Event".

Er konnte, auch dafür wurde er von uns geliebt, sehr verachten.

Das Schönste in diesem Film kommt, wie es sich gehört, zum Schluss: Storz nach dem Interview im Gespräch mit seiner Frau Jutta, seinem Lebensmenschen. Sich von der Kamera unbeobachtet wähnend, erzählen die beiden von ihrem Kennenlernen, sich des nahenden Abschieds bewusst und doch leicht. Man sieht das und denkt: so war das also schon immer, und so wird es wohl immer sein.

Ich durfte - und will das nicht verschweigen - bei der Anbahnung dieses Films als eine Art Postillon d'amour Storz und Graf miteinander verbinden, die sich zu meiner Verblüffung nicht persönlich kannten. Mit beiden hatte ich zwar gearbeitet, saß nun aber - schnell abgemeldet - als Adabei am Esstisch in Storz' schönem Haus im oberbayerischen Deining, glücklich, weil ich mir sicher war, dass hier etwas Großes entsteht. Einer wie Oliver Storz, sagt Graf, verdiente es eigentlich, von der allgemeinen Sterbepflicht befreit zu werden.

Tja.

Manchmal saßen wir nach langen gemeinsamen Drehtagen noch eine Weile zusammen im Auto und hörten Jazz. Storz rauchte, ich nicht mehr, was er für Feigheit vor dem Feind hielt. Oft schwiegen wir, was ein Zeichen von Freundschaft ist. Das werde ich nie mehr vergessen. Wenn ich an ihn denke, höre ich die Abschiedsworte seiner Freibadschönheit : "Bleib übrig."

Was nun auch bleibt: dieser besondere Film. Der so viel erzählt - über unser Land, über unser Fernsehen, über Oliver.

Lawinen der Erinnerung, Arte, Mittwoch, 21.55 Uhr

Matthias Brandt, 50, ist Schauspieler und derzeit Kommissarim Münchner "Polizeiruf 110", wofür er zuletzt den Bayerischen Fernsehpreis erhielt. Mit Dtorz drehte er unter anderem den Film "Im Schatten der Macht.

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