Dokumentation:Alles Lüge

Auf Arte befasst sich Larry Weinstein mit der Geschichte der Propaganda. Die Doku will alles hinterfragen, wirft aber so ziemlich alles durcheinander.

Von Gustav Seibt

Am Ende wird es in dem Film, der so ziemlich alles durcheinanderwirft, was man besser auseinanderhielte, noch einmal grundsätzlich. Der Mensch sei "ein soziales Wesen, beherrscht von Instinkten und brennend vor Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören", darum brauche er "Erzählungen und Mythen, an die alle glauben, um den Einzelnen an die Gemeinschaft zu binden".

Daran ist so viel richtig, als es in großen sozialen Verbänden, in denen Menschen sich nicht alle kennen, nicht ohne Symbolisierungen geht. Der Schritt von der tierischen Horde zum sozialen Großverband bedurfte der Sprache, der Religion, später der Schrift, des Buchdrucks bis zur Digitalisierung. Auch Mythen hatten Wahrheitseffekte: Wo Absprachen mit Abwesenden verlässlich sein sollen, kann es nützlich sein, Götter zu denken, die Verträge schützen.

Handabdrücke früher Menschen in Höhlen sind Propagandamittel machtbesessener Schamanen

Das sind Binsenweisheiten der Anthropologie, aber man muss an sie erinnern, wenn Trivialaufklärung jede Symbolisierung mit dem Label Lüge belegt. Das tut die Arte-Dokumentation zur Weltgeschichte der Propaganda von Larry Weinstein, die zwar mit einem Großaufgebot von Fachleuten und Bildern auffährt, dafür aber nur einen Begriff hat. Alles ist ihr Lüge - von der Religion bis zur Kunst, von der Höhlenmalerei bis zum Youtube-Clip des IS. Wenn frühe Menschen vor 5000 Jahren Handabdrücke auf Höhlenwänden hinterließen, habe das der Macht der Schamanen gedient: Propaganda, Priestertrug von Anfang an! Dass die Zeichen in ihrer Welt eine "Wahrheit" bedeuteten, wird nicht erwogen.

Interessanter wäre es gewesen, den Ursprung des neuzeitlichen Propagandabegriffs aus der europäischen Welteroberung und der konfessionellen Spaltung im 16. Jahrhundert zu entwickeln: "Propaganda fide", Verbreitung des Glaubens, wurde in dem Moment zur bewussten Aufgabe, in dem Glaubenswahrheiten unter Christen umstritten wurden und der Kontakt mit fremden Religionen eine Herausforderung zur Evangelisierung stellte. Propaganda im modernen Sinn setzt ein Publikum voraus, das gewonnen werden muss. Darum ist es verfehlt, den Herrscherkult Alexanders des Großen, welcher der Repräsentation einer fernen Zentralmacht im kaum erschlossenen Großreich diente, "Personenkult" zu nennen, als ginge es um Stalinismus.

Eine Orwell-Expertin regt sich über Studenten auf, die den Begriff der Wahrheit überhaupt leugnen. Darin sieht sie den Nährboden für Fake News. Dabei könnte man umgekehrt argumentieren, dass radikale Skepsis auch die Wirksamkeit von Manipulationen beschränkt. Vielleicht ist aber die fatalste heutige Möglichkeit von Propaganda nicht die Falschmeldung, sondern die Zerstörung des Vertrauens insgesamt.

Diesen Irrgarten verlässt der Film nicht, auch wenn er vom katholischen Gottesdienst über den Nürnberger Reichsparteitag bis zum Auftritt der Gruppe "Laibach" in Nordkorea an nichts spart. "Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen", weiß Goethes "Faust". Die historisch zu konkretisierende Einsicht, dass Lüge und Manipulation instrumentelle Möglichkeiten eines nicht zu vermeidenden Symbolgebrauchs sind, geht unter. Alles hinterfragen, "Geschichten neu erzählen", heißt die Forderung am Schluss. Eine Handvoll Unterscheidungen wäre nützlicher.

Propaganda - Wie man Lügen verkauft, Arte, 10.9., 20.15 Uhr

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