In die ersten Sekunden packt Ruth Rieser ihren ganzen Film hinein: Man glaubt, einen Ausschnitt der Milchstraße zu sehen, und schaut aber schließlich in eine Wanne mit Entwicklerflüssigkeit, in der sich eine Fotografie von Georg Stefan Troller materialisiert. Das Große in den Blick nehmen und darin das Konkrete entdecken - so ist der 99-jährige Troller selbst sein Leben lang verfahren in seinen neugierigen, wachen, forschenden Filmen. Und so macht es nun Rieser in ihrem Dokumentarfilm über ihn: Auslegung der Wirklichkeit, der beim Dokfest München zu sehen ist, blickt in zwei konzentrierten Stunden auf dieses Jahrhundertleben zurück, indem Rieser das Wesentliche zu erkennen gibt.
Wenn das Foto schließlich die nötigen Konturen hat, prasseln Fragen auf den Zuschauer ein aus dem Off. Sind es Fragen an Troller? Oder Fragen, die Troller gestellt hat, um ebenjene Antworten zu erhalten, mit denen er die Wirklichkeit auslegen kann? Beides ist richtig - auch diese Spiegelung ist ein Hinweis Riesers auf ihre Herangehensweise, dass nämlich Troller besonders nahekommt, wer dessen Verfahren auch auf ihn selbst anwendet.
Berühmt geworden ist Georg Stefan Troller für seine filmischen Interviews, die anfangs umstritten waren, längst aber stilbildend sind aufgrund der subjektiven, einfühlsamen Frageweise. Nach Anfängen als Hörfunkreporter für den Rias in den Fünfzigern und seinem von 1962 an im Ersten gezeigten Pariser Journal fand er vor allem in der Interviewreihe Personenbeschreibungen zu seiner eigenen Form, die er von 1971 an als Sonderkorrespondent in Paris für das ZDF realisiert hat.
"Ich konnte keine Filme machen mit Leuten, die ich missbilligte oder die mich missbilligten."
Troller hat Gespräche geführt mit Edith Piaf, Somerset Maugham, Anaïs Nin, Peter Handke, Leonard Cohen, Romy Schneider, Henri Cartier-Bresson ... "Für mich hat immer jeder recht", sagt er in Riesers Film: "Ich konnte keine Filme machen mit Leuten, die ich missbilligte oder die mich missbilligten." Troller war interessiert, persönliche Geheimnisse der Interviewten zu entdecken. Und immer sei die Kernfrage gewesen: "Wie lebt man richtig?"
Das ist auch für ihn die entscheidende Frage gewesen, nachdem er nur knapp dem Holocaust entronnen ist. "Die Hunderte Leute, die ich interviewt habe, haben mir den Weg gewiesen", sagt Troller: "Du musst diese Leute lieben können." So sei ihm die Selbstheilung gelungen, indem er sich mit den Problemen anderer auseinandergesetzt habe. "Über die Identifikation mit anderen konnte ich mich wieder mit mir selbst identifizieren." So konnte er eine Rolle, eine Aufgabe finden, die es ihm gerechtfertigt erscheinen ließ, als einer von wenigen österreichischen Juden überlebt zu haben.
"Wo die Selbsteinschätzung eines Menschen erschüttert wird, muss man stoppen."
Wie weit man in Interviews gehen könne, möchte Ruth Rieser von ihm wissen, der stets behutsam erschien und trotzdem bohrend war. Sehr weit, entgegnet Troller: "Bis dahin, wo die Selbsteinschätzung eines Menschen infrage gestellt wird." Dort, wo sie dann erschüttert werde, müsse man stoppen. Oft biete sich nur eine Chance in einem Gespräch, hinter die Fassade zu gelangen - die müsse man ergreifen. Das verlange Instinkt und Spontaneität. "Leider wird es heute von den idiotischen Redakteuren verlangt, dass du bei einem Dokumentarfilm ein Drehbuch vorher ablieferst. Damit machst du dir praktisch den Film kaputt." Denn was man dann zeige, sei nicht das Leben, sondern eine Vorstellung oder ein Traum davon.
Auch in vielen anderen Punkten ist Auslegung der Wirklichkeit ein kluger, sehr reflektierter Beitrag in der aktuellen Debatte um das Wesen des Dokumentarfilms, die sich an dem Fall Lovemobil entzündet hat.
Je weiter Ruth Rieser vordringt, desto mehr rückt Georg Stefan Troller als Filmemacher in den Hintergrund und seine persönliche Geschichte ins Zentrum. Rieser besucht mit ihm die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau und später Wien, wo er aufgewachsen ist. Ein Visum hatte ihm die Flucht vor den Nazis in die USA ermöglicht. Mit den amerikanischen Truppen ist er nach Europa zurückgekehrt, Troller war unter den Befreiern des KZ Dachau. In Wien nun sucht er die früheren Wohnhäuser seiner Familie auf. In einer Wohnung steht noch der Bücherschrank seiner Eltern, darin Bücher, die er zu seiner Bar Mitzwa geschenkt bekommen hat. "Ein ganz eigentümliches Gefühl", sagt er - die ältere Bewohnerin erzählt ihm, der Schrank habe ihren Eltern gehört. "Jetzt ist es egal", sagt Troller: "Ich habe mein eigenes Leben gehabt."
"Auslegung der Wirklichkeit", von 6. bis 23. Mai 2021 zu sehen beim Dokfest München .