Als deutscher Leser der im Jahr 1780 gegründeten Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) hat man gelegentlich das Gefühl, in eine interessante und hochkomplexe Welt geraten zu sein, die man nie in Gänze ergründen wird. Da gibt es Begriffe wie "Agglo", es gibt politische Parteien namens CVP, BDP, EVP, GLP und FDP, wobei das F für "freisinnig" steht. Und dann ist da noch das schöne basisdemokratische Wort "Stimmvolk". Kurz gesagt, die Schweiz ist ein wundervolles und sehr spezielles Land, und vier Landessprachen hat sie auch. Presseerzeugnisse in der Deutschschweiz sind daher beim Versuch, die Auflage zu erhöhen, geografisch relativ festgelegt.
Insofern leuchtet es ein, dass die NZZ seit einer Weile viel tut, um Leser im "grossen Kanton" im Norden zu gewinnen. Chefredakteur Eric Gujer war lange Deutschland-Korrespondent und hat immer noch eine Vorliebe für Berliner Politik; seit einiger Zeit schreibt er auch einen Newsletter für Deutschland, und offenbar glaubt man in der Zürcher Falkenstraße an das Potenzial im Nachbarland. Noch vor der Bundestagswahl im September soll, wie nun bekannt wurde und die NZZ bestätigt, ein digitales Produkt speziell für deutsche Leser starten - eine elektronische Zeitung, die im Layout aussieht wie das Printprodukt, mit eigenen deutschen und viel weniger Schweizer Inhalten. Wie viele Themen aus der Schweiz an das deutsche Publikum gebracht werden sollen, wird wohl von Fall zu Fall entschieden. Klar ist, dass viele NZZ-Freunde in Deutschland die Zeitung häufig auch gerade lesen, um etwas aus der Schweiz zu erfahren. "Das neue Produkt wird sehr dicht an der Marke sein, also richtig NZZ", erklärt Chefredakteur Gujer, der auch berichtet, dass derzeit 30 Prozent der Klickzahlen bei der Online-Seite aus Deutschland kommen, "bei einigen Themen sogar mehr als 60 Prozent. Diesen Lesern wollen wir ein Angebot machen".
Ganz fremde Märkte sind Österreich, Deutschland und die Schweiz nie gewesen. So hat die Zeit aus Hamburg beispielsweise seit längerem eine eigene Ausgabe in der Schweiz am Kiosk, immer mal wieder auch mit einem eigenen Cover. Der Spiegel passt sein Titelbild den Schweizer Themen an, wenn es sich anbietet. Tatsächlich aber sorgt die digitale Welt dafür, dass der deutschsprachige Raum immer mehr zu einem publizistischen Konkurrenzmarkt wird - Titel aus Österreich und der Schweiz muss man nicht mehr mühsam an einem der wenigen Kioske erwerben, die sie im Sortiment haben. Alles ist nur noch einen Klick entfernt. Digitale Ausgaben brauchen keinen herkömmlichen Vertriebsapparat und ermöglichen es, dass etablierte Marken mit völlig neuen Produkten in Erscheinung treten. So startete etwa der Spiegel Mitte Mai sein allabendliches Spiegel Daily, der Versuch einer digitalen Abendzeitung. Ob dieses Angebot tatsächlich auf Interesse stößt, ist bislang nicht bekannt, der Spiegel nennt keine Zahlen.
In Österreich ist die NZZ gerade erst gescheitert. Doch aus den Fehlern dort hat man gelernt
Dass trotzdem nicht alles überall geht, hat die NZZ gerade selbst erlebt. Im April stellte sie das Online-Angebot nzz.at für Österreich mangels Erfolg nach zweieinhalb Jahren wieder ein. CEO Veit Dengler, der als Österreicher in Wien die neue liberale Partei NEOS mit aufgebaut hatte und dann in Zürich das Österreich-Angebot der NZZ, verließ Anfang des Monats überraschend die Zeitung. Dabei konnte er gute Zahlen vorweisen, vor allem dank neuer Geschäftsfelder. Bei NZZ und NZZ am Sonntag dagegen sank der Umsatz, die Zahl der zahlenden Kunden aber wuchs. Bei Denglers Abgang war von Uneinigkeiten über mittelfristige Vorhaben die Rede. Ging es damals schon um die Expansion nach Norden?
Aus dem Scheitern in Österreich hat man jedenfalls gelernt. Während man dort mit gut 20 Personen angefangen hat und dann Rückbau betreiben musste, beginnt man nun klein und will dann, je nach Echo, ausbauen. "Wie groß das Produkt werden wird, wird der Markt entscheiden", sagt Gujer. Geplant wird für den Anfang offenbar mit drei Mitarbeitern in Berlin, die auch für das Hauptblatt schreiben sollen. Bislang ist nur bekannt, dass Marc Felix Serrao, zuvor Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, das Team leiten soll und im Juli antritt.
Vielleicht verfasst der Chef aus Zürich ja auch öfter mal selbst Texte für Deutschland: Der in der politischen Analyse oft scharfe Gujer schreibt ebenso leidenschaftlich gegen Populismus und gegen Politik als "routinierten Verwaltungsbetrieb" an wie er sich kritisch mit der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel auseinandersetzt. Vielleicht ist ihm die Schweiz inzwischen einfach etwas zu klein für seinen publizistischen Drang. Unstrittig ist, dass Gujer angetreten ist, um die Blattlinie zu schärfen. Kritiker werfen ihm vor, das Blatt nach rechts zu treiben. Würde man die Erwartung an das neue deutsche E-Paper an Gujers journalistischer Haltung festmachen, dann bekommt Deutschland womöglich demnächst ein, wenn auch kleines, Importprodukt, das publizistisch rechts von der FAZ angesiedelt ist. Das Marktpotenzial einer Publizistik mit bürgerlich rechtskonservativer Weltsicht haben hierzulande schon viele beschworen. Das Magazin Cicero fährt mit dieser Linie derzeit offenbar geschäftlich auch ganz gut.
"Bürgerlich-liberal" soll das neue Angebot werden, sagt Gujer. Er sagt aber auch: "In der Schweiz ist vieles Mainstream, was in Deutschland schon als rechts gilt."