Süddeutsche Zeitung

Die Welt von Al-Dschasira:Herz der Erleuchtung

Keiner ist so frei, so ausführlich, so kontrovers - der Fernsehsender Al-Dschasira hat die arabische Medienwelt revolutioniert. Ohne ihn sind die Freiheitsbewegungen in Nordafrika kaum denkbar. Ein Besuch in der Zentrale in Doha.

Janek Schmidt

Es ist zwei Uhr nachts, als Rawya Rageh unter ein Bett flüchtet und so angestrengt nach ihren Verfolgern lauscht, dass sie hört, wie ihr Herz immer schneller zu schlagen beginnt. Die Reporterin des Senders al-Dschasira hat Unterschlupf bei einer Familie gefunden, um sich vor Unterstützern des ägyptischen Regimes zu verstecken. Doch nun haben die Schlägertrupps ihre Fährte aufgenommen und klopfen an alle Türen des Häuserblocks. Es sind endlos lange Minuten, in denen die Stimmen der Verfolger lauter werden, und Rageh nur ein Gedanke durch den Kopf geht: "Alles, was sie wollen, ist unser Blut."

Diese Angst, die Rageh, zusammengekauert unter dem Bett, beschleicht, ist ein kurzes Gefühl in einer langen Schlacht: Dabei kämpfen Sicherheitskräfte in etlichen arabischen Staaten gegen Journalisten um die Hoheit über Informationen. An vorderster Front stehen die Journalisten von al-Dschasira. Sie sind eine Art Elite-Einheit des arabischen Fernsehens. Niemand manövriert in der Region so geschickt wie sie, niemand erzielt dabei eine solche Wirkung, niemand führt diesen Kampf seit so langer Zeit. Denn für al-Dschasira begann die Auseinandersetzung nicht mit den tunesischen Protesten im Dezember, sondern im Frühjahr vor 15 Jahren.

"Es war an einem Nachmittag im April 1996", erinnert sich der frühere BBC-Reporter und heutige Al-Dschasira-Chefredakteur Ahmed Sheikh. An jenem Tag erhielten die damaligen Mitarbeiter des arabischen Programms der BBC die Aufforderung, nicht mehr in ihre Büros im Londoner Viertel White City zu kommen. Ihr Sender wurde geschlossen. "Während wir ungeduldig darauf warteten, dass die Verwaltung abgewickelt wird, erfuhren wir, dass ein Gast aus Katar da war, der versuchte, die alten Angestellten für einen neuen Sender anzuwerben", erzählt Sheikh. Nur zwei Monate später flog er aus dem Regen in London in die erdrückende Schwüle der katarischen Hauptstadt Doha. "Es war wortwörtlich ein heißer Start für meine Arbeit bei al-Dschasira, und die Erfahrung sollte so bleiben."

Arabische Sender waren lange Zeit nur Hofberichterstatter für ihre örtlichen Herrscher gewesen. Doch der Emir von Katar, Hamad bin Khalifa al-Thani, hatte 1995 bereits mit einem Putsch gegen seinen eigenen Vater gegen den arabischen Ehrenkodex verstoßen. Nun suchte er Ansehen mit Hilfe von Reformen - und spendete Berichten zufolge etwa 150 Millionen Dollar für die Gründung eines neuen Senders, den er bis heute bezuschusst. Erstmals in der Geschichte des arabischen Fernsehens sollten darin alle politischen Lager zu Wort kommen und so das Motto von al-Dschasira untermauern: "Die Meinung und die andere Meinung."

Nirgends ist diese Devise so klar zu erkennen wie in einer Sendung, die zur kontroversesten Show des arabischen Fernsehens wurde: "Al-Ittijah al-Muakis" - auf Deutsch: "Die entgegengesetzte Richtung". Darin debattieren zwei prominente Gäste über Themen, die viele Menschen bewegen, die aber in öffentlichen Diskussionen verschwiegen werden. Als al-Dschasira etwa die konservative ägyptische Schriftstellerin Safinaz Kazim und die jordanische Menschenrechtlerin Tujan al-Faisal einlud, über Polygamie zu diskutieren, endete die Debatte in einem Eklat: Die Damen schrien sich an, und auf den Hinweis, dass die Gäste live auf Sendung seien, antwortete Kazim nur noch: "Selbst wenn wir auf dem Mars wären, ich gehe." In den ersten Jahren von al-Dschasira waren viele Araber so fasziniert von der Talkshow, dass sie Gerüchten zufolge bis zu 100 Dollar für Videokassetten mit Aufzeichnungen davon bezahlten.

Die spektakulärsten Effekte erzielte die Sendung jedoch mit politischen Themen. "Bald fing ich an, meine Freiheit zu nutzen, ganz nach dem Prinzip: Wenn sie dir einen Meter geben, dann nimm drei", erzählt der frühere BBC-Journalist Faisal al-Kassem, der die Show bis heute moderiert. Also lud er zwei Gäste zu einer Debatte über den Friedensvertrag zwischen Jordanien und Israel ein. Die Folge löste eine solche Kontroverse aus, dass die jordanische Regierung das örtliche Al-Dschasira-Büro schloss. Eine weitere Sendung über Libyen verärgerte die Regierung in Tripolis derart, dass sie sogar ihren Botschafter aus Katar abzog. So schrieb die US-Zeitschrift The Atlantic über Kassem: "Niemand in der arabischen Fernsehwelt ist so kontrovers, so gehasst oder so geliebt wie er."

Aus diesen politischen Verwerfungen entwickelte sich ein Witz: Arabische Diplomaten in Doha, hieß es, müssten nun weniger mit der katarischen Regierung verhandeln als mit al-Dschasira. Auch Kasem erzählt, dass ihm ein saudischer Botschafter einst scherzhaft zuraunte: "Meine Rolle wurde darauf reduziert, auf ,Die entgegengesetzte Richtung' zu warten und zu sehen, ob mein Land darin vorkommt - dann werde ich aus Doha abgezogen." Doch während die Beamten in den Glitzerpalästen scherzten, gewöhnten sich die arabischen Fernsehzuschauer an die öffentliche Kritik an ihren Herrschern. So befeuerten die neuen Journalisten aus Doha einen Protesteifer, der sich nun in den Straßen von Bengasi bis Bagdad entlädt.

Neben diesem Einsatz für offene Diskussionen gibt es aber noch einen zweiten Grund, warum viele Beobachter nun vom "Al-Dschasira-Moment" sprechen: Zwar bemängeln Kritiker, dass der Sender Missstände im heimischen Katar und im benachbarten Saudi-Arabien verschweigt. Doch von den Protesten in der restlichen arabischen Welt berichtet kein Sender so schnell, so ausführlich und so genau. Um herauszufinden, wie das den Reportern aus Doha gelingt, muss man Salah Negm besuchen, einen Veteranen des Nahost-Journalismus, der bei al-Dschasira den Titel "Direktor der Nachrichten" trägt.

Der Weg zu Negms Arbeitsplatz führt an den Stadtrand von Doha über den sogenannten TV-Kreisverkehr vor dem Sendegelände und vorbei an drei Kontrollposten: den Wachen an der Pforte, einem Bombensucher, der den Unterboden einfahrender Autos nach Sprengstoff absucht, und schließlich einer Sicherheitsschleuse wie an einem Flughafen. Die Schleuse gibt den Blick frei auf einen kreisrunden Platz mit 13 Palmen, der das abgeschirmte Gelände in zwei Hälften teilt: Auf der einen Seite des Platzes liegen die arabischen Studios, auf der anderen ein zweistöckiger Bau: Er entstand 2006 für den damals gegründeten englischsprachigen Sender mit seinem futuristischen Nachrichtenstudio.

An einem Ende dieser neonerleuchteten Halle thront eine halbrunde 21 Meter lange Leinwand, vor der die Nachrichtensprecherin Folly Bah Thibault gerade über die Kämpfe in Libyen berichtet. Daneben steht ein großer Kreis aus Tischen, an denen acht Menschen auf insgesamt 36 Computer-Monitore blicken. Wie von einem riesigen Magneten werden dort die Informationen aus der ganzen Welt angezogen. Das ist der Newsroom des Senders, und das Reich von Salah Negm.

"Es ist ganz einfach, warum wir Entwicklungen oft so schnell mitbekommen", sagt Negm, während er in seinem Kaffee rührt, von dem er sich in diesen anstrengenden Tagen vornehmlich ernährt. "Hier arbeiten Leute aus 50 Ländern, da weiß immer jemand Bescheid, was in seiner Heimat gerade passiert." Mit solch guten Kontakten erkannten Negm und seine Mitarbeiter im vergangenen Dezember schnell die Dynamik der Protestaufrufe auf der Internetseite Facebook. Schon am Tag der ersten Demonstration in Kairo hatten sie drei Reporterteams im Land stationiert. "Außerdem können wir ohne bürokratische Hürden entscheiden", sagt Negm, "innerhalb einer Woche hatten wir sechs Teams mit insgesamt 18 Journalisten vor Ort."

Für die Herrscherhäuser der Region sind die Al-Dschasira-Berichte über die Proteste besonders gefährlich. Nicht nur sympathisiert der Sender - wie auch viele westliche Medien - mit den Demonstranten. Vor allem sahen Sicherheitskräfte etwa in Kairo, wie junge Aktivisten al-Dschasira auf Großleinwände projizierten und den protestierenden Massen einen Eindruck vom Ausmaß der Revolte und damit neuen Mut gaben. Umso härter griff auch Ägyptens Regime gegen al-Dschasira durch. So blockierten die Behörden den Kanal, räumten Büros des Senders, konfiszierten Kameras und versuchten Journalisten mit Verhaftungen und Misshandlungen einzuschüchtern. "In Alexandria mussten viele unserer Leuten jede Nacht in anderen Häusern schlafen, damit sie nicht entdeckt wurden", erzählt Negm, "wir haben von Doha aus ständig mit ihnen telefoniert, um ihnen beim Koordinieren zu helfen."

Besonders schwierig waren die Telefonate mit der Familie in Alexandria, bei der die Reporterin Rawya Rageh unter das Bett geflüchtet war. "Die Bewohner des Hauses hatten nichts mit al-Dschasira zu tun und hatten natürlich riesige Angst, dass sie auffliegen würden", erzählt Negm. Alle 15 Minuten habe er bei der Familie angerufen, um sie zu beruhigen. "Das ging bis neun Uhr in der Früh, als die meisten Schläger abgezogen waren, und Rawya mit einem Kopftuch verkleidet aus dem Haus schleichen konnte."

Dass sich Rageh und ihre Kollegen so unauffällig bewegen können, verdanken sie auch der Unterstützung aus einem kleinen, dunklen Büro im ersten Stock der Sendezentrale in Doha. Dort sitzt Safdar Mustafa, der Chef des sogenannten Projekts für Mobile Reporter. Wie in einem James-Bond-Film, in dem der Tüftler Q Wunderwaffen für den Agenten 007 entwickelt, stellt Mustafa ein Paket für Al-Dschasira-Journalisten zusammen, die nicht auffallen wollen.

"Wir testen hier ständig die neuesten Handys", sagt Mustafa, der zuvor in England beim Mobilfunk-Unternehmen Ericsson arbeitete und seitdem weiß, was moderne Handys alles können. Die neuen Telefone gibt er dann den Reportern, die damit heimlich filmen, Interviews aufzeichnen und sogar Kurzbeiträge schneiden. Für die Übertragung nach Doha erhalten sie in Mustafas Ausrüstungspaket zudem ein besonders kleines Satellitenmodem, etwa halb so groß wie ein Schuhkarton. Damit können sie von jedem Ort ihr Material verschicken. Die Redakteure in Doha erhalten dabei automatisch die GPS-Daten des Reporters und wissen so, von welchem Ort die Filme kommen.

Da aber auch den mobilsten Rechercheuren bei al-Dschasira viel entgeht, hat Mustafa in seinem engen Büro noch Platz für Riyaad Minty geschaffen. Der 26-Jährige hatte vor einigen Jahren sein eigenes Computerunternehmen in Südafrika gegründet, bevor ihn al-Dschasira nach Doha abwarb. Dort leitet er nun das Team für Soziale Medien mit sechs Mitarbeitern, die insgesamt acht Sprachen sprechen.

Gemeinsam durchkämmen sie täglich die Netzwerk-Gemeinde von Facebook, den Internet Videokanal YouTube sowie den Kurznachrichtendienst Twitter. "Außerdem haben wir eine eigene Seite aufgebaut, über die Nutzer ihre Handyvideos hochladen können", sagt Minty. Über diese Seite mit dem Namen Sharek, was auf Deutsch Zeuge heißt, erhält Mintys Team derzeit bis zu 500 Videos pro Tag. "Das Auswerten dauert so lange, dass ich in den letzten zwei Monaten täglich bis zu 16 Stunden gearbeitet habe", sagt Minty. "Aber es ist einiges spannendes Material dabei, und das schicken wir dann runter an den Newsroom."

Dort telefoniert nun auch wieder Nachrichten-Chef Negm mit Korrespondenten in Libyen. "Manchmal müssen wir unsere Leute ein bisschen bremsen, wenn das Adrenalin mit ihnen durchgeht", sagt Negm. Vielen kann er helfen mit seiner Erfahrung, wie etwa der flüchtenden Reporterin Rageh in Alexandria. Doch nicht immer reicht die Unterstützung der Chefs aus Doha. So etwa bei dem Kameramann Ali Hassan al-Jaber. Als dieser kürzlich von einer Demonstration in einer kleinen libyschen Stadt in die Rebellenhochburg Bengasi zurückfuhr, verfolgten ihn nach Berichten aus Doha einige Sicherheitsleute. Plötzlich eröffneten sie das Feuer: Drei Kugeln trafen Jaber - eine ins Herz, und damit kam jede Hilfe für ihn zu spät.

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SZ vom 02.04.2011/fort
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