Süddeutsche Zeitung

"Die Heimsuchung" im Ersten:Meer der Erinnerung

Lesezeit: 3 min

Der Mystery-Thriller"Die Heimsuchung" mit Kostja Ullmann ist eine Reise durch Hirnströme, Schuldgefühle und verdrängte Traumata - rasante Erzählkunst.

Von Dennis Müller

Hat man nach dem Abspann das Bedürfnis, einen Film gleich noch mal zu schauen, kann das zwei Dinge bedeuten: Entweder es handelt sich um einen absoluten Klassiker, einen Lieblingsfilm, von dem man nicht genug bekommen kann. Oder das Filmende ist so überraschend und unerwartet, dass man sofort das Verlangen verspürt, den ganzen Film noch einmal zu schauen, um alles noch einmal mit dem Wissen vom Ende zu sehen. Diese Wendung ist in dem ARD-Film Die Heimsuchung umso verblüffender, als er anfangs überhaupt nicht in dem Verdacht steht, irgendeine Art von Verwirrung zu erzeugen.

Der Berliner BKA-Polizist Ben (Kostja Ullmann) dringt zu Beginn in ein Kellerverlies ein und befreit ein junges Mädchen. Als die beiden von Taschenlampenlicht geblendet werden, vermutet man erst Bens Kollegen am Ende der Treppe, doch die Schattengestalten stellen sich als die Entführer heraus - und sie feuern. Das Mädchen erliegt den Schussverletzungen, Ben liegt im Wachkoma, aber kommt in Gegenwart seiner Freundin Marion (Kristin Suckow) wieder zu sich. Damit er nach dem Schock erst mal Abstand von Berlin gewinnen kann, will Marion mit ihm an die Ostsee, wo sie endlich seine Eltern kennenlernt. Auf deren Gutshof könnte man gut entspannen, würde man meinen, doch Ben plagen seine Erinnerungen. Das tote Mädchen begegnet ihm überall als geisterhafte Erscheinung.

Je verstrickter alles wird, desto mehr Mut fasst auch die Inszenierung

Schuld, die sich materialisiert, kennt man gut aus Gruselfilmen. Gerne dargestellt zum Beispiel durch unschuldig aussehende Kinder, die plötzlich - begleitet von schrillen Geigentönen - im Badezimmerspiegel auftauchen. Das passiert auch in Die Heimsuchung, und man denkt erst: Ah, deutscher Horror, bisschen klischeehaft, aber warum nicht. Falsch gedacht, denn dass Regisseur Stephan Rick und Drehbuchautor Thorsten Wettke mehr vorhaben mit ihrem Publikum, als es mit Mädchengeistern zu erschrecken, das weiß man, wenn man ihren komplex erzählten Polizeiruf "Tod einer Journalistin" kennt. Und das ahnt man, als sie Bens Jugendfreund Timmi (Ilja Bultmann) einführen, mit dem die Story eine Wendung ins Mysteriöse nimmt. Ben hielt Timmi nämlich eigentlich für tot.

Stattdessen liegt Timmi, wie vorher Ben, im Wachkoma, und zwar seit er fast erstickte, als er auf dem Bauernhof seiner Familie als Kind in ein Maissilo gesperrt worden ist. Absichtlich oder nicht, die Frage beschäftigt Ben bis heute. Mit Marion an seiner Seite, die von Beruf Neurologin ist, scheint sich jetzt endlich die Gelegenheit zu bieten, das Rätsel von damals zu lösen.

Für diesen Film sollte man die Bereitschaft mitbringen, über die Science-Fiction-artige Kommunikationsweise via Gehirnfunktionsmessung zwischen Ben, Marion und dem Komapatienten Timmi hinwegzusehen. Sie gleicht mehr einer Geisterséance als der Praxis im Krankenhausalltag, das stört aber angesichts der fulminanten zweiten Hälfte des Films nicht weiter. Die damit beginnt, dass beim Hirn-Scan alles auf ein tiefes Trauma in Timmis Vergangenheit hindeutet. Welches das sein könnte, und was das Geistermädchen mit alldem zu tun hat, halten die Macher Rick und Wettke bis zum Ende im Vagen. Sie legen falsche Fährten, streuen Hinweise ein, die erst nach der finalen Szene Sinn ergeben und das Gesehene rückblickend in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen - große Erzählkunst.

Je verstrickter alles wird, desto mehr Mut fasst auch die Inszenierung. Wo am Anfang noch etwas billige Schreckmomente als handwerkliche Höhepunkte herhielten, wandelt sich das Bild des bäuerlichen Ostseedörfchens, in dem man zwei Packungen Fruchtbrause für 20 Cent bekommt, zunehmend in eine eindringlich beklemmende Einöde aus Verstörung und Verdrängung. Jeder von Bens zahlreichen Erkenntnismomenten wird begleitet von spektakulären Kamerafahrten und Lichteffekten. So entstehen surreale Szenen, die Gänsehaut machen und dazu noch schön anzusehen sind. Einmal irrt Ben zum Beispiel - beobachtet von einer rotierender Kamera - durch die Klinik, bis er plötzlich im eigenen Wohnzimmer landet. Die verdutzten Gesichtsausdrücke hat Hauptdarsteller Ullmann in solchen Momenten übrigens drauf. Nett, weil der verdutzte Zuschauer daheim gerade ungefähr genauso schaut.

Die Heimsuchung, Das Erste, Samstag, 20.15 Uhr.

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