Süddeutsche Zeitung

Deutschlandfunk:Dudel-groovy-doo

Jazz zum Brexit, Funk zur Schießerei: Die Musik zwischen den Deutschlandfunk-Nachrichten wirft Fragen auf.

Von Jan Kedves

Ein Mann hat im US-Bundesstaat Illinois um sich geschossen und sechs Menschen getötet - davon wissen die fetten Bläserfanfaren und Afrofunk-Beats im Deutschlandfunk nichts. Unicef ruft zu Spenden für die Kinder im Jemen auf, sechs von ihnen sterben täglich - ein House-Beat bringt mit sanftem Lounge-Rumms ein bluesiges Gitarrenpluckern auf Trab. Die Brexit-Verhandlungen in London treten weiter auf der Stelle - anders das Acid-Jazz-Stück aus den Neunzigerjahren, damals war in London noch was los, dudel-groovy-doo!

Ja, man könnte es wohl eine gehörige auditiv-kognitive Dissonanz nennen, was man täglich in den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk erleben kann - unter der Woche vier Stunden lang, ab fünf Uhr, samstags drei Stunden lang, ab sechs. Das Programm ist die morgendliche Nachrichtensendung mit der größten Reichweite in Deutschland, knapp zwei Millionen Hörerinnen und Hörer informieren sich hier zum Kaffee oder auf dem Weg zur Arbeit über das Neueste aus der Welt. Zugleich sind die Informationen am Morgen die Nachrichtensendung mit der wohl merkwürdigsten Musikauswahl in Deutschland.

Nicht allein, dass es so wirkt, als hätten die eingespielten Musikstücke häufig den Auftrag, die Nachrichten - meist sind sie sehr deprimierend - ein wenig aufzupeppen, zehn, zwölf, fünfzehn Sekunden lang. Sondern in der kurzen Zeit hat eigentlich keine Melodie die Chance sich zu entfalten, sie wird ja gleich wieder heruntergedreht. Hoch und runter, hü und hott. Schwierig - zumindest wenn man Musik mag. Man stellt sich das so vor: Es gibt da in der Redaktion des Deutschlandfunks diesen schon lange verbeamteten, kurz vor der Pension stehenden Weltmusik-, Funk- und Jazz-Nerd, vermutlich hat er lange Haare. Er kennt sich super aus und freut sich, dass er zwischen den Nachrichteneinspielern hier das darf, was er in vergleichbaren Nachrichtenprogrammen, zum Beispiel in der BBC, nie dürfte: seinem privaten Musikgeschmack frönen. Niemand sagt etwas dagegen - der Kollege wird ja eh bald verabschiedet, und so wichtig ist die Musik in der Sendung dann auch wieder nicht. Es geht ja vor allem um die Informationen. Ist es so?

Knapp zwei Millionen Hörerinnen und Hörer informieren sich hier über das Weltgeschehen

Die Frage führt in die 17. Etage des Deutschlandradio-Funkhauses in Köln-Marienburg, in das Büro von Tim Schauen, der hier einen schönen Ausblick auf das Siebengebirge hat, bei gutem Wetter. Schauen ist 47, trägt die Haare kurz und ist Redakteur für Blues und Rock. Das heißt, er plant und produziert in erster Linie eigene Beiträge über Musik, sitzt für sie auch selbst hinterm Mikro. In der Ecke seines Büros stehen ein selbstgebauter Röhrenverstärker mit orangefarbenem Lautsprecherkasten und eine Kopie der legendären Gibson-ES-335-Gitarre, wie sie B.B. King gespielt hat. Kürzlich sei er auf Dienstreise in den USA gewesen, um über die Blues-Weltmeisterschaft in Memphis zu berichten, erzählt Schauen, bei der Gelegenheit habe er endlich mal das Grab von B.B. King besucht.

Schauen hat Germanistik, Geschichte und Soziologie studiert und spielt "semiprofessionell", wie er sagt, in Bands, vor allem Blues, härteren Rock und Progressive Rock. Er ist nicht verbeamtet, sondern arbeitete lange als freier Mitarbeiter unter anderem für verschiedene ARD-Wellen. Festangestellt beim Deutschlandfunk ist er seit Sommer 2015. Seitdem ist er auch - als einer von zwei Stellvertretern des Leiters der Abteilung Musik des Senders, Christoph Schmitz - für die Zwischenmusiken in den Informationen am Morgen verantwortlich. Mit einer Kommission sucht er das Material für den "Teppich" aus - so wird das intern genannt, wenn zur Überleitung zwischen Wortbeiträgen Musik aus einem "Pool" eingespielt wird. In diesem sind genau 365 Musikstücke. Nichts extra Komponiertes, auch keine Fahrstuhl-Muzak wie im Kaufhaus, sondern: handelsübliche Populärmusik mit Qualitätsanspruch.

Für diese zahlt der Deutschlandfunk auch regulär Lizenzgebühren an die GEMA. Um für den Pool der Informationen am Morgen geeignet zu sein, muss die Musik sehr viele Kriterien gleichzeitig erfüllen: Sie darf, wie Schauen erklärt, keinen Gesang und keinen Text enthalten, sie muss also instrumental sein, und Soli gehen eigentlich auch nicht, denn die haben ja Stimmcharakter und könnten so mit dem Inhalt der Wortbeiträge in Reibung geraten. Was nicht erwünscht wäre. Wobei man in Bezug auf den instrumentalen Afrofunk-Track "All For You" von RJD2 aus dem Jahr 2006 - er ist in den Informationen am Morgen gefühlt jeden dritten Morgen zu hören - wohl sagen muss: Er gerät mit dem Inhalt durchaus in Reibung, wenn er, wie oben, auf die Nachricht von den sechs Toten in Illinois folgt. Was die Frage aufwirft, was die Redaktion sich dabei denkt. Auf sie gibt es zwei Antworten. Die erste lautet: gar nichts, die Stücke werden von einer Software nach dem Rotationsprinzip aus dem Pool gezogen. Da sitzt niemand, der sich überlegt: Zu dieser Katastrophe würde dieser Beat gut passen. Was ja beruhigend ist.

Die zweite Antwort lautet: Es kann nie eine Garantie darauf geben, dass Einspielmusik hundertprozentig passt. Was es gibt, sind Musikgeschmäcker und Präferenzen. Und Parameter für eine erhoffte halbwegs neutrale Wirkung: "Wir wollen mit Musik affirmativ halten, sodass man dem Gedanken aus dem Beitrag von gerade eben noch kurz nachhängen kann, oder sich wachen Geistes vorbereiten kann auf das nächste spannende Thema, das die Redaktion vorbereitet hat", sagt Tim Schauen. Die Musikstücke im Pool sollen sich nicht exaltiert in den Vordergrund spielen, sie müssen drei Sekunden funktionieren oder auch mal dreißig Sekunden lang. "Eigentlich suchen wir nach der eierlegenden Wollmilchsau."

Wir, das ist die Kommission, "fünf bis acht Kolleginnen und Kollegen aus dem Haus". Alle können Musik vorschlagen und stimmen dann ab. Der Altersdurchschnitt in der Kommission variiert um die 50 - "also im Durchschnitt immer noch jünger als der Hörerdurchschnitt. Der liegt bei 56, 57 Jahren", sagt Dirk Müller, 52. Er ist einer der Moderatoren der Sendung und hat sich nun in Schauens Büro gesetzt. "Wir kennen die Themenlage vor einer Sendung nicht, wir müssen jederzeit von Pakistan nach Paderborn überleiten können", sagt Schauen, um zu verdeutlichen, dass das Terrain, das die Musik überbrücken muss, unwägbar ist.

Dirk Müller erzählt, dass früher nach jedem Beitrag einzelne Titel gespielt wurden, nach jedem Wortbeitrag kam ein neues Stück. Das wirkte für die Hörer "ziemlich unruhig", so Schauen. Jetzt arbeiten sie mit einem Titel für einen Sendeabschnitt, der 20 bis 25 Minuten beträgt. Dieses Stück wird dann über eine Strecke von vier oder fünf Beiträgen immer wieder eingesetzt, was für die Hörer "zu einem stringenteren Gesamteindruck führt". Es kann aber auch lieblos wirken. Oder verplant - wie bei einem DJ, der es nicht rechtzeitig geschafft hat, eine neue Platte auszuwählen und der dann einfach dieselbe nochmal spielt. Zwischen Brexit-Chaos und Abschiebungen nach Afghanistan.

Ach, es ist schwierig. Wie ja immer bei Musik. Darüber kann man mit Tim Schauen auch sehr gut reden. Er spielt als Musiker in einer Bluesrock-Band und in einer Funk-Kapelle. Tim Schauen brennt für Musik, ganz klar. Aber bei dieser Sendung geht es eben nicht um Passion. Sondern um diese Informationen am Morgen-Musik.

Ein Kompromiss folgt auf den nächsten, und häufig weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Zwischendurch viele Versuche, möglichst unauffällig das Thema zu wechseln und nicht zu viel anzuecken. Ist das Hören der Informationen am Morgen nicht schon eine sehr gute Vorbereitung auf einen ganz normalen Tag? Oder man könnte es auch politisch sehen: Wenn es in Deutschland möglich ist, dass fast zwei Millionen Menschen in der größten Nachrichtensendung, finanziert aus Rundfunkbeiträgen, täglich eben gerade nicht Schlager oder Wagner oder noch schlimmeres Deutschtümelndes vorgespielt bekommen, sondern Electro-Blues, Jazz-Funk und "African Jungle", dann ist die Idee eines weltoffenen Deutschlands vielleicht doch noch nicht so verstaubt wie die Musik. Und das ist dann mal eine gute Nachricht.

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Quelle:
SZ vom 10.04.2019
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