Süddeutsche Zeitung

"Der weiße Tiger" auf Netflix:Gefletschte Zähne

Wer aus einer niedrigen Kaste kommt, hat in Indien fast keine Chancen. Ramin Bahrani verfilmt für Netflix den Romanerfolg "Der weiße Tiger".

Von Fritz Göttler

Es ist eine unbequeme Stellung, in der Balram sich befindet. Der Junge will nach oben in der indischen Gesellschaft, aber noch ist er festgeklemmt zwischen den verschiedenen Klassen, den Kasten. Er kniet vor seinem Herren, dem alten Landlord, den alle den "Storch" nennen, auf der rechten Schulter hat er dessen ausgestreckten Fuß liegen, den er gehorsam mit Öl massiert. Auf die linke legt sich indessen sanft die Hand von Pinky Madam, der Schwiegertocher des Alten.

Der Patriarch, Gutsherr und Besitzer zahlreicher Kohlebergwerke, demonstriert - ihm und seinen Kindern - unmissverständlich und gemein, dass Balram für ihn der gehorsame Diener ist und das gefälligst bleiben soll. Die junge Pinky (Priyanka Chopra Jonas) mit ihren modernen, humanen Prinzipien, wirft dem Alten eben diesen Akt der Erniedrigung vor. Sie ist gerade aus Amerika zurück, wo sie lange Zeit verbrachte. Auch ihr Ehemann Ashok, der Sohn des Storchs, teilt ihre Ansichten und den lässigen neuen Lebensstil.

Die beiden wirken wie eine indische Variante der Trump-Tochter Ivanka und ihres Gatten Jared Kushner, sie geben sich jugendlich und dynamisch und aufgeklärt. Und doch erinnern sie immer noch an die Herrenmenschen der alten Kastengesellschaft. Balram ist, in eigenartiger, durchaus erotischer Personalunion, ihr Kumpel und Chauffeur.

Chauffeur sein, das war Balrams großes Ziel, von klein auf, als ein erster Schritt, aus seiner Kaste rauszukommen. Das einst stark gegliederte indische System, erklärt er uns, sei inzwischen zusammengeschrumpft auf zwei Kasten, die der Menschen mit dicken Bäuchen und die mit wenig Bauch. Irgendwann im Laufe seines Aufstiegs sieht man dann, wie auch sein Bauch fülliger wird - dafür macht er einige nicht sehr schöne Sachen, Bestechung natürlich oder Erpressung, später auch Mord. Der naive Überschwang aber, der Enthusiasmus, mit dem er uns seine eigene Erfolgsgeschichte erzählt, schiebt manche Bedenken beiseite, im Roman "Der weiße Tiger" wie in dem Film, den Ramin Bahrani nun danach drehte.

Amerika war gestern - Indien und China sind die Zukunft, glaubt der Held

Den Anlass, um diese Geschichte kundzutun, bietet der Besuch von Chinas Premier Wen Jiabao in Indien. Begeistert hockt Balram sich eines Nachts in seinem Büro hin und schreibt Wen Jiabao eine E-Mail, um ihn auf die Jungunternehmer der neuen indischen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Es ist eine kumpelhafte Erfolgsgeschichte, Balram ist begeistert, weil China, anders als Indien, niemals in seiner Geschichte von fremden Völkern beherrscht wurden, von weißen Westlern.

Deren Zeit ist vorüber, die Zukunft gehört dem braunen und dem gelben Mann: "America is so yesterday. India and China are so tomorrow." Bangalore, wo Balram mit seinem Unternehmen residiert, ist das indische Hightech-Zentrum. Auch hier aber wird noch mit den bewährten alten Methoden gehandelt, Ashok macht seine Runde mit einer roten Tasche voller Geld, mit dem er die entscheidenden Leute schmiert.

"Der weiße Tiger", der erste Roman von Aravind Adiga, erschien 2008. Er ist bereits dem Regisseur Ramin Bahrani gewidmet und war gewissermaßen ein gemeinschaftliches Projekt der beiden. Bahrani kennt Adiga von der Columbia University in Amerika, seitdem tauschen die beiden sich regelmäßig über ihre neuen Projekte aus. Bahrani, der in North Carolina geboren ist als Sohn iranischer Immigranten, hat sozialkritische Filme in Amerika gemacht, erst kleine unabhängige in New York, über Immigranten, die um ihr karges Einkommen kämpfen und ihre großen Träume: "Man Push Cart" und "Chop Shop".

Diese Filme, sagt Aravind Agida, hätten wiederum seinen Roman stark inspiriert. Bahranis nächste größere Projekte waren "Um jeden Preis", 2012, mit Dennis Quaid und Zac Efron, und "99 Homes: Stadt ohne Gewissen", 2014, mit Andrew Garfield und Michael Shannon, ein Kampf ums eigene Heim in der chaotischen Immobilienlandschaft von Florida. Zuletzt drehte er eine Neuverfilmung von Ray Bradburys "Fahrenheit 451", mit Michael Shannon und Michael B. Jordan als Montag.

Ein weißer Tiger, das hat Balram schon in der Schule gelernt, ist das seltenste Tier im Dschungel, es gibt nur einen in jeder Generation. Der Tiger im Dschungel und seine Einsamkeit, das ist schon lange eine Metapher im europäischen Kino, aber in Bahranis Film hat der Tiger nichts von dieser coolen existenzialistischen Aura, und wenn er zum Äußersten geht, wenn er mordet, dann tut er das archaisch brutal, mit einem abgebrochenen Flaschenhals.

Der Aufsteiger Balram ist eine fantastische Figur zwischen Masochismus und Großspurigkeit

Adarsh Gourav als Balram - es ist seine erste Rolle - ist clever und naiv, auf eine fröhliche Weise, aber sein Grinsen ist fratzenhaft und nervig, er fletscht vor dem Spiegel die Zähne und fängt dann an, mit Zahnpasta sich wild die Zähne zu putzen. Er wird von seinem Herren und dessen Sohn als Joker gehandelt. Was es damit auf sich hat, merkt er, als Pinky Madam am Steuer einen schlimmen Unfall baut.

Bahrani hatte diverse Vorbilder für seinen Film, die Romane von Richard Wright und Ralph Ellison, den großen afroamerikanischen Autoren, und die Filme des Italo-Amerikaners Martin Scorsese, "Taxi Driver" und "Goodfellas". Die indische Zukunft ist von Neon ganz und gar illuminiert, Balram ist eine fantastische Figur zwischen Masochismus und Großspurigkeit. Einmal steht er vor einem der riesigen Neubauten in Delhi, die Hände auf dem Rücken verschränkt, dann nimmt er einen Arm hoch und fängt an, mit dem Zeigefinger die Stockwerke abzuzählen. Siehst du dich als Gott oder als Mensch, wird er mal gefragt, als seine flapsige Hybris unübersehbar wird, und er erwidert: Ich bin nur einer, der aufgewacht ist, während alle anderen noch schlafen.

Im Grund ist die indische Gesellschaft immer noch ein Matriarchat, Balrams Geschichte wird von der Großmutter in seinem Heimatdorf bestimmt, der er einen Teil seines Lohns schicken muss. Im Land bestimmt die große Sozialistin, eine Politikerin, die alle schmieren - ihr Wichser, sagt sie gern zu den Männern, und treibt die Beträge ungeniert hoch. Mit der Pandemie, erklärt Ramin Bahrani, ist überall das alte Herr-Diener-Verhältnis zurückgekehrt, nun dienen die Pizzalieferanten, die Uber-Fahrer, das Personal der Krankenhäuser.

The White Tiger, 2021 - Regie, Buch: Ramin Bahrani. Nach dem Roman von Aravind Adiga. Kamera: Paolo Camera. Mit: Adarsh Gourav, Priyanka Chopra Jonas, Rajkummar Rao, Majesh Manjrekar, Perrie Kapernaros. 125 Minuten, Netflix.

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