Süddeutsche Zeitung

"Das weiße Schweigen" über den Fall Niels Högel:Gepflegter Notstand

Der Krankenpfleger Niels Högel hat mehr als 80 Menschen ermordet. Der Film "Das weiße Schweigen" greift seinen Fall auf und sucht Erklärungen auch im Gesundheitssystem.

Von Johannes Korsche

An Ricos Händen klebt Blut. Während der Krankenpfleger versucht, einen Patienten zu reanimieren, platzt die Narbe auf dessen Brust. Keine Zeit zum Saubermachen, der Kampf muss weitergehen. Es ist bereits der dritte auf der Intensivstation, der in dieser Nacht, der Sturmflutnacht, wie sie die Pflegerinnen und Pfleger nennen, mit Herzdruckmassage behandelt werden muss. Und nicht der Letzte, fünf Mal schrillt der Alarm. Gut, dass der "Super-Reanimateur" Rico Weber (Kostja Ullmann) Dienst hat. Doch dann, als er auf seine blutbefleckten Hände blickt, verzieht er sein Gesicht zu einem grimassenhaften, schiefen Lächeln. Gefällt Rico etwa der Kampf um das Leben - mit ihm in der Rolle des gottgleichen Retters?

Der Film Das weiße Schweigen von Regisseurin Esther Gronenborn nimmt sich eine wahre Begebenheit als Vorlage: Die Geschichte von dem als "Todespfleger" bekannt gewordenen Serientäter Niels Högel. Der Krankenpfleger spritzte seinen Patienten Medikamente, die zum Beispiel Kreislaufversagen verursachten, damit er sie anschließend reanimieren, also "retten" konnte, was ihm nicht immer gelang. 85 Morde wurden ihm nachgewiesen, der psychiatrische Sachverständige attestierte Högel Narzissmus und den Hang, immer im Mittelpunkt stehen zu wollen. Er wurde 2019 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.

Die Sturmflutnacht markiert ziemlich genau die Mitte des Films, der für RTL+ produziert wurde und auch auf dem Münchner Filmfest Premiere hatte. In ein paar Monaten soll er auch bei Vox im Free-TV laufen. Diese Nacht ist der Kipppunkt, an dem auch der letzte Zuschauer gemerkt haben dürfte, dass Rico nicht der "beliebte Kollege", der "Super-Reanimateur", ist, wie er in den Film eingeführt wird. Auch Clara Horn (Julia Jentsch) findet Rico erst mal ganz sympathisch, als sie frisch geschieden und nach jahrelanger Kinderpause wieder auf Station anfängt. Die beiden landen schnell im Bett. Doch mit der Zeit wird sie misstrauisch, ihr fällt auf, dass während Ricos Schichten deutlich mehr Patienten reanimiert werden müssen als sonst. Doch als sie ihren Verdacht teilt, wird ihr schnell klar: Klinikleitung und Kollegen haben kein Interesse an Aufklärung. Im Gegenteil, Clara soll bloß nicht das Image der Station und den Frieden stören. Doch sie fängt an, dem Kollegen nachzuspüren, wobei sie der Film sehr eng begleitet. Mit dem schönen Effekt, dass Rico zur Nebenfigur seiner eigenen Mordserie wird.

Der Film umgeht die Gefahr, an der Heldenwerdung des Täters aktiv mitzuwirken

Dieser Kunstgriff ist ein intelligenter Ausweg aus einer Falle, in die alles, was sich True Crime nennt, oft tappt: an der Heldenwerdung des Täters mitzubasteln, was ja noch problematischer wird, wenn die Lust, im Mittelpunkt zu stehen, möglicherweise ein wesentlicher Mordantrieb war. Das weiße Schweigen behandelt damit seine reale Vorlage wesentlich angemessener als die ebenfalls bei RTL+ streambare True-Crime-Doku Der Todespfleger, in der man Högel per Telefoninterview zuschaltete und ihm eine Bühne bereitet. Wer sich dem Stoff weniger reißerisch nähern will: Die Sky-Doku-Serie Schwarzer Schatten - Serienmord im Krankenhaus zitiert aus den Verhörprotokollen der Polizei, dazu sprechen Opfer und Polizisten. Auch die ARD-Doku Schwarzer Schatten: Der Serienmörder Niels Högel behandelt die Mordserie.

Und nun also noch ein Spielfilm. Kann die Fiktionalisierung überhaupt noch etwas Neues beitragen? Sie kann. Denn weil Das weiße Schweigen so konsequent den Täter an den Rand drängt, sucht der Film weitere Erklärungen für seine Taten - und er findet diese auch in strukturellen Problemen des Gesundheitssystems. Pflegenotstand, Personalmangel, ständig reden die Pflegerinnen davon. Der Zeitdruck bei der Arbeit ist das erste, was Clara nach ihrer Rückkehr in den Beruf eingebläut wird. Kurz vor Ende des Films spricht dann auch noch eine Reporterin in ein Mikro: "Neben der persönlichen Schuldfrage ... beschäftigt uns die Frage, ob ein System, in dem Gewinnmaximierung vor Patientenwohl steht und der Pflegenotstand bereits eingepreist ist, nicht einen gewissen Anteil am Verlauf der schrecklichen Ereignisse hatte?"

Nun ist der Pflegenotstand eine unbestrittene Tatsache, die auch im realen Fall Högel eine Rolle spielte. Der Film selbst thematisiert den Pflegenotstand zwar überdeutlich, stellt die Verbindung zur Mordserie aber nicht her. Sprich: Dass Rico ganz alleine Nachtschichten schieben muss und dabei ungestört sein Unwesen treiben kann, wird kaum klar. Kann es auch gar nicht, schließlich nimmt der Film so strikt die Clara-Perspektive ein, dass der Zuschauer nur jene Momente sehen kann, an denen sie beteiligt ist.

Und obwohl der Film ein Psychothriller sein will, beginnt sich stellenweise Langeweile breitzumachen. Was auch damit zusammenhängt, dass bereits in der ersten Szene der Gerichtsprozess eingeführt wird, zu dem später immer wieder aus dem kühl gefilmten Klinikalltag geschnitten wird. Der Böse wird also gestellt, das weiß man sofort. Aus der sehr guten Idee, dem Täter keine Bühne bereiten zu wollen, folgt, dass Spannung auf anderem Weg hätte erzeugt werden müssen. Spannung bleibt in Das weiße Schweigen ein Konjunktiv. Der Film stellt sich so letztlich selbst ein Bein.

Das weiße Schweigen, 20.15 Uhr, auf Vox.

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