Kriegsreporter in der Ukraine:"Wir sind die Russen"

Lesezeit: 3 Min.

"Deine Schutzweste verdeckt dein Mikrophon": Matthew Chance rüstet sich aus. (Foto: Screenshot Youtube/CNN)

Live vom Angriff: Wie das, was Reporter vor laufender Kamera erlebt haben, die Wirklichkeit des Krieges zu den Zuschauern brachte.

Von Leo Kilz

Wenn ein Konflikt ausbricht, schlägt die Stunde der Kriegsberichterstatter. Die Liveschalten aus dem Krisengebiet zeigen der Weltöffentlichkeit wie unübersichtlich und ungewiss das Leben abseits des Friedens ist. Nur Minuten nachdem Wladimir Putin seine Kriegsrede an die Ukraine im russischen Staatsfernsehen verlesen hatte, wollte CNN-Anchorman Don Lemon eine Einschätzung aus Kiew einholen. Korrespondent Matthew Chance hatte gerade berichtet, es habe noch keine Reaktionen auf Putins Ansprache gegeben, da zuckte er zusammen: "Ich habe gerade einen großen Knall gehört, hier hinter mir." Die erste Rakete war nahe Kiew eingeschlagen.

Der "Senior International Correspondent" fuhr seinen Kameramann an: "Ich hab Dir noch gesagt, wir sollten hier keine Liveschalte machen." Dabei war der entfernte Knall auf dem Dach des Kiewer Hotels noch bei weitem nicht die brenzligste Situation, die der Kriegsreporter erleben würde. Nachdem er die Einschläge mitbekommen hatte, zog er sich vor laufender Kamera eine schusssichere Weste über und setzte einen Helm auf. Es war der Beginn eines langen und wilden Arbeitstages für Chance.

Manche finden Kriegsreportagen voyeuristisch, andere halten lineares Fernsehen ohnehin für überholt. Die schockierendsten Bilder vom Krieg finden sich derzeit auf Tiktok und Reddit. Aber der Einsatz von Journalisten, die in Kriseneinsätze fahren, um mit den Menschen vor Ort zu sprechen und helfen, die Geschehnisse einzuordnen, ist unersetzlich - und gefährlich.

Der CNN-Reporter bemerkt zu spät, dass er aus Versehen die Seiten gewechselt hat

Nicht nur auf CNN wurden die Reporter von den Geschehnissen vor laufender Kamera überrascht: Joe Federman von der Nachrichtenagentur AP schlüpfte während einer Liveschalte aus Kiew lieber doch in seine Schutzweste. Mit Weste setzte er dann seinen Bericht für den noch jungen US-Nachrichtensender News Nation fort.

AP-Journalist Federman stülpte man während des Berichts eine Schutzweste über. (Foto: Screenshot Youtube/Newsnation)

Besonders heikel wurde es dann später nochmal für CNN-Reporter Matthew Chance. Er fuhr mit seinem Team bis zum Antonow-Flughafen westlich von Kiew, weil von dort heftige Kämpfe gemeldet wurden. Nach seinem Eintreffen fragte der Reporter die Soldaten, wo denn die Russen seien. Als der Mann im Tarnanzug ihm antwortete "Wir sind die Russen", begriff Chance, dass er aus Versehen die Seiten gewechselt hatte. Er ging live und erklärte den Zuschauern was ihm passiert war und, dass russische Fallschirmspringer nun etwa 20 Kilometer vor Kiew einen Flughafen eingenommen hätten. Später zeigte CNN Bilder eines Feuergefechts, die das Team um Chance nur wenige Meter vor sich aufgezeichnet hatte.

CNN-Reporter Matthew Chance: Zufällig auf russische Soldaten getroffen. (Foto: Screenshot Youtube/CNN)

Journalist James Rothwell von der britischen Tageszeitung The Telegraph nahm mit seinem Handy Szenen aus dem Luftschutzraum seines Hotels auf. Abseits der Front zeigte er ungewollt die Lebensrealität weiter Teile der Zivilbevölkerung: angespannt unter irgendeinem Heizungsrohr sitzen; in Ungewissheit, was sich über den eigenen Köpfen abspielt; den Gerüchten, Ängsten und Eilmeldungen ausgeliefert.

The Telegraph-Korrespondent Rothwell im Luftschutzkeller. (Foto: Screenshot Youtube/The Telegraph)

Für Bild berichtete der stellvertretend Chefredakteur Paul Ronzheimer aus der Ostukraine. Er erzählte den Zuschauern von Fluchtbewegungen und langen Schlangen vor den Tankstellen, als er plötzlich sichtlich irritiert innehielt: "Ich muss mal kurz nachfragen, was gerade passiert ist", sagte Ronzheimer, wartete einige Sekunden auf eine Antwort und berichtete: "Gerade haben sie zu meinem Übersetzer gesagt, sie werden ihn gleich in die Armee einziehen."

Bild-Vize Ronzheimer erfährt, dass sein Übersetzer zu den Waffen gerufen wird. (Foto: Screenshot Youtube/Bild Live)

Es ist die Sprache der Bilder, die der Weltöffentlichkeit den Irrsinn des Krieges vor Augen führt. Und besonders deutlich wurde das beim amerikanischen Ur-Nachrichtensender CNN. Als hinter Reporter Frederik Pleitgen auf der russischen Seite der Grenze die Raketen in den Himmel geschossen wurden, berichtete wenig später Sam Kiley in Charkiw dem Zuschauern, dass sie hinter ihm niedergingen - CNN zeigte die beiden Journalisten im Splitscreen.

Links fliegen die Raketen los, rechts schlagen sie ein: CNN-Reporter auf beiden Seiten der Front. (Foto: Screenshot FernsehübertragungCNN)

Wenn es darauf ankommt, beinahe lässig zwischen beiden Seiten der Front und dem Studio hin und her zu schalten, ist CNN in seinem Element. Das macht auch die Wucht aus, die die Berichterstattung des Cable News Networks entwickeln kann. "Stay safe out there!" - das ist nicht ohne Grund der Satz, den die Kollegen im Studio von ABC bis Sky News ihren Korrespondenten an der Front immer wieder zurufen.

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