Süddeutsche Zeitung

ARD-Doku:Getriebene im Schweinesystem

Eine ARD-Doku zeigt, wie der Fleischproduzent Clemens Tönnies sich neu erfinden will - und wie das eigene Wirtschaftsmodell seinen Arbeitern, den Bauern und ihm selbst zusetzt.

Von Christian Wernicke, Düssseldorf

Am Anfang begegnet der Zuschauer Deutschlands berühmtestem Metzger so, wie er ihn zu kennen glaubt. "Ich bin kein Pate", bestreitet Clemens Tönnies die Vorurteile über sich: "Zampano, Pate - gibt's nicht." Mürrisch blickt der Fleischbaron in die Kamera, dann führt er das Publikum ins Innere seines Imperiums. Der Konzernchef streicht einer Mitarbeiterin am Fließband über den Rücken. Oder er rügt, dass ein Angestellter bei der Zerlegung eines Schweins gerade einen Fetzen Fleisch vergeudet hat. Tönnies, der Getriebene, treibt an. Ihm geht's um jedes Gramm im Hauptwerk im westfälischen Rheda-Wiedenbrück, wo 7000 Mitarbeiter täglich mehr als 20 000 Tiere zu Schnitzel, Schinken und Nackensteaks verhackstücken.

Es sind seltene Einblicke, die Die Schlachtfabrik bietet: eine Dokumentation, die am Montagabend ab 22.50 Uhr in der ARD läuft. Fast ein Jahr lang hat ein WDR-Team recherchiert, um in knapp 45 Minuten zu zeigen, wie es so zugeht in Europas größter Fleischfabrik. Die Reportage geht (laut Untertitel) der Frage nach, "wie Tönnies um seinen Ruf kämpft". Aber der Film leistet viel mehr: "Die Story im Ersten" zerlegt das gesamte Schweinesystem. Innerhalb einer Dreiviertelstunde erfährt der Zuschauer vom Ferkel im Stall bis zum Filet, welchen Regeln und Zwängen Massentierhaltung und industrielle Fleischproduktion gehorchen. Und warum Clemens Tönnies, der mutmaßlich mächtigste Mann der Branche, daran selbst zugrunde gehen könnte.

"So werden wir nicht weitermachen", verspricht der Chef

Der Film beginnt an jenem Tag, als Tönnies am Tiefpunkt ist. Am 20. Juni 2020 stoppt der Kreis Gütersloh die Fleischproduktion in Rheda-Wiedenbrück. Ein Corona-Ausbruch im Schlachthof hat mehr als tausend Leiharbeiter - zumeist Rumänen, Polen und Balten - infiziert. Tausende werden in Quarantäne gepfercht. Am Nachmittag dieses schwarzen Samstags tritt der Konzernchef vor seine marmorweiße Hauptverwaltung ins Sonnenlicht: "So werden wir nicht weitermachen", verspricht Tönnies. "Wir werden diese Branche verändern."

Vom Fleisch-Saulus zum Branchen-Paulus - will er das, kann er das? Die WDR-Recherche beginnt in Rheda-Wiedenbrück. Dort packt Tönnies tatsächlich an: Er investiert Millionen Euro in eine bessere Belüftung seiner Fabrik, kauft reihenweise Wohnsilos und Einfamilienhäuser, um Billiglöhnern bessere Unterkünfte anzubieten. Und er bietet seinen Leiharbeitern, die bisher unter der Fuchtel zwielichtiger Subunternehmer malochten, erstmals direkte Arbeitsverträge an. Das sind (für ihn teure) Fortschritte - aber ein totaler Bruch mit den alten Strukturen, ein klarer Schnitt mit sämtlichen Seilschaften im Fleischgewerbe ist es nicht.

Die Spurensuche führt nach Rumänien, wo Tönnies viele seiner meist ungelernten Schlachter, Zerleger und Verpacker anwerben lässt. Der Konzern macht das nicht selbst. Das erledigen, auf eigene Rechnung und gegen Provisionen, noch immer einige jener Subunternehmer, die früher die Leiharbeiter für Werksverträge rekrutierten. Ehemalige Mitarbeiter, Gewerkschafter und Sozialarbeiter erzählen, wie dieses Netzwerk Menschen fischt für Tönnies. Und wie es denen ergeht, die kein Wort ihrer deutschen Verträge begreifen. Oder die ausgemustert und zurück nach Rumänien geschickt werden nach einer schweren Verletzung im Schlachthof. Miserabel, noch immer.

Wer ist hier von wem abhängig, wenn man immer neue Billigarbeiter braucht?

Einer dieser Menschenfischer im Trüben ist Dumitru Miculescu. Der Rumäne stellt sich - anders als Tönnies - nicht der WDR-Kamera. Aber es wird deutlich, welche Macht dieser "Dienstleister" (Tönnies über Miculescu) hat - nicht nur über unzählige Landsleute, die er einer deutschen Fleischfabrik zuführt. Sondern auch über deren Boss, der diese Arbeitskräfte händeringend braucht und fürchtet, ohne diesen Zulieferer auf einen Schlag tausend Mitarbeiter am Schweine-Fließband zu verlieren. "Die Frage ist berechtigt: Wer ist eigentlich abhängiger?", sagt Tönnies im Interview, "ich hab' eben dieses Bindeglied noch nötig". Tönnies klingt an dieser Stelle wie ein Junkie beim zähen Entzug: "Wir fahren runter", sagt er. "Wir haben einfach einen Zeitfaktor, den brauchen wir, um umzustellen."

Gegen Ende öffnet die Dokumentation den Blick auf den Rest der fleischigen Nahrungskette. Auf einen der mehr als elftausend Schweinezüchter etwa, der seine Tiere für einen Stückpreis von 120 Euro auf die Schlachtbank liefert - obwohl er doch 150 Euro bräuchte, um die Kosten des Familienbetriebs zu decken. Tönnies versichert, sein Unternehmen sei "nicht Teil des Problems, sondern immer Teil der Lösung."

Nur, welche Lösung? Ein Sprecher des Lebensmittelhandels bestreitet, dass Billigpreise beim Discounter schuld seien an der Fleischkrise. Während der Bauer um die Existenz bangt, sieht auch der Großschlachter inzwischen ein Wirtschaftsmodell wanken, das er einst selbst miterschaffen hat. Corona, Schweinepest und schärfere Gesetze setzen ihm zu. "Da sieht man, dass wir exakt extrem unter Wasser sind, also in tiefroten Zahlen", sagt er, "und zwar nicht nur Tönnies allein." Sondern die gesamte Branche.

Tönnies stellt um, sogar auf vegane Ware. Er ist längst Treiber und Getriebener zugleich. Nur ein Mittäter taucht in der "Schlachtfabrik" des WDR nicht auf - der fleischverzehrende Verbraucher. Aber der sitzt, hoffentlich, vorm Fernseher.

"Die Schlachtfabrik", 22.11., ARD, 22.50 Uhr.

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