Clare Hollingworth:Die Frau, die den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs meldete

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Nur zwei Dinge hatte Clare Hollingworth als Korrespondentin nach eigenen Angaben immer dabei: Eine Zahnbürste - und eine Schreibmaschine. (Foto: Bearbeitung Jessy Asmus/SZ)

Clare Hollingworth landete einen Jahrhundertscoop: Sie berichtet als Erste, wie deutsche Panzer an der polnischen Grenze auffahren. Die Karriere der Journalistin, die jetzt im Alter von 105 Jahren gestorben ist, liest sich wie ein Abenteuerroman.

Von Eva Steinlein

Clare Hollingworth ist keine dreißig Jahre alt, als sie für den britischen Telegraph eine Nachricht vermeldet, die als Jahrhundert-Scoop gelten kann: "1000 Panzer an der polnischen Grenze aufgefahren", lautet die Schlagzeile am 29. August 1939. "Zehn Divisionen zum schnellen Angriff bereit". Darunter steht nicht einmal ihr Name ("from our own correspondent", heißt es lapidar), dabei hat sie einen entscheidenden Augenblick der Weltgeschichte erkannt, während er noch im Gange ist: den Überfall des nationalsozialistisch regierten Deutschen Reichs auf Polen, der den zuvor vereinbarten Nichtangriffspakt ad absurdum führt - und den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert.

Überfall auf Polen 1939
:Wie das Grauen des Zweiten Weltkriegs begann

Am 1. September 1939 überfällt Hitler-Deutschland Polen. Bereits in den ersten Stunden zeigen sich wesentliche Elemente der NS-Kriegsführung: Militärtechnik, Lüge und Brutalität. Fotos aus dem SZ-Archiv.

"Während ich dort war, entwickelte sich plötzlich der Krieg"

Ihre Geschichte liest sich wie ein Abenteuerroman und ist dennoch in kaum einem Geschichtsbuch über den Zweiten Weltkrieg zu finden. Die Korrespondentin des Telegraph geht erst drei Tage ihrer Arbeit nach, als die Grenze zwischen Polen und dem damaligen Schlesien geschlossen wird. Kurzerhand leiht sie sich das Auto von einem Mitarbeiter des britischen Konsulats und fährt durch die von Deutschland okkupierte Gegend im heutigen Tschechien. In der Stadt Gleiwitz (heute Gliwice) macht Hollingworth eine denkwürdige Beobachtung: Am Straßenrand stehen Hunderte deutsche Panzer, verdeckt von Wänden aus aufgespanntem Sackleinen: Sie "wehten im Wind, so konnte ich das Kriegsgerät erspähen", schreibt sie später in ihrer Autobiografie.

Von einem nahegelegenen Haus aus ruft Hollingworth im britischen Konsulat an und schildert die Lage - weil man ihr zunächst nicht glaubt, hält sie kurzerhand den Telefonhörer aus dem Fenster und lässt die Diplomaten das Rollen der Panzerketten hören. Schnell ist klar: NS-Deutschland bereitet einen Überfall vor. Am 1. September 1939 marschieren deutsche Truppen in Polen ein. "Ich hatte keine Angst", sagt sie 2014 dem Telegraph in einem Interview, als sie schon über hundert Jahre alt ist. Eigentlich war sie ins Grenzgebiet zu fahren, um Menschen bei der Flucht vor den Nazis zu helfen. "Während ich dort war, entwickelte sich plötzlich der Krieg."

Hollingworth berichtet aus Algerien, China, Jemen und Vietnam

Mit der Sensationsnachricht für den Telegraph beginnt Hollingworths lange Karriere als Auslandsjournalistin mit einem untrüglichen Gespür für die wichtigsten Nachrichten der Zeit. Eine Karriere, die schon damals ungewöhnlich war. Während des Kriegs fährt die 27-Jährige, die damals im Pass zwei Jahre älter geführt wird, im Auto durch das umkämpfte Polen, eine Taschenlampe und einen Revolver auf dem Beifahrersitz: "Wenn es zu dunkel wurde um weiterzufahren, habe ich angehalten, ein paar Kekse gegessen, einen Schluck Whisky getrunken und mich für die Nacht eingerollt", gibt die erste weibliche Kriegsreporterin später ihrem Großneffen Patrick Garrett zu Protokoll.

Furcht hat sie nach eigenen Angaben vor nichts und niemandem: "Ich muss zugeben, dass ich gerne im Krieg bin", kommentiert Hollingworth ihre Berufswahl. "Ich bin nicht tapfer, ich mag es einfach. Ich weiß nicht, warum. Gott hat mich so gemacht." Sie berichtet aus Algerien, wird als eine der ersten westlichen Korrespondenten im maoistischen China nach der Kulturrevolution zugelassen, arbeitet in Jemen und Vietnam. Ihr Gepäck besteht bei diesen Unternehmungen im Wesentlichen aus zwei Dingen - einer Zahnbürste und einer Schreibmaschine. An Kinder ist für Hollingworth, die zweimal verheiratet ist, nicht zu denken: "Von Kindern wollte ich verschont bleiben, weil ich meine gesamte Zeit dem Schreiben widmen wollte." Über ihr aufregendes Leben verfasst sie in sieben Jahrzehnten fünf Bücher.

Ihr Großneffe Patrick Garrett recherchierte und schrieb ihre Biographie

In den Siebzigerjahren lässt sich die Journalistin in Hongkong nieder und richtet dort auch ihren Alterswohnsitz ein. Im Jahr 2016 feiert sie dort im Haus des Auslandskorrespondentenclubs ihren 105. Geburtstag. "Mit 105 haben wir uns langsam gefragt, ob Clare unsterblich ist", sagt ihr Großneffe Patrick Garrett. "Sie hat sich an Weihnachten erkältet und das gibt natürlich bei älteren Leuten besonderen Anlass zur Sorge. Wir gingen davon aus, dass sie das abschüttelt, aber es sollte ihr letztes Weihnachten sein."

Am Dienstag gab der Club der Auslandskorrespondenten bekannt, dass "die gefeierte Kriegskorrespondentin" Clare Hollingworth in Hongkong gestorben ist - "nach einer glanzvollen Karriere, die sich über ein Jahrhundert voller Nachrichten erstreckte", heißt es in der Mitteilung. "Ich bin froh, dass ich zehn Jahre darauf verwendet habe, ihre Biographie zu recherchieren und zu schreiben", sagte Patrick Garrett. "Sie mag gegangen sein, aber ihr Vermächtnis lebt weiter".

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