Fall Relotius beim "Spiegel":Abbitte in Fergus Falls

Lesezeit: 4 min

Im März 2017 druckte der Spiegel diese Reportage von Claas Relotius. Die Dokumentationsabteilung des Magazins übersah haufenweise Fälschungen. (Foto: Spiegel/Bearbeitung: Michael Mainka)
  • Zwei Bürgerjournalisten aus der amerikanischen Kleinstadt Fergus Falls veröffentlichten nach Bekanntwerden des Skandals um Claas Relotius einen Blogeintrag, in dem sie auf Fehler in einem seiner Texte hinwiesen.
  • Der Blogeintrag wirft kein gutes Licht auf die Dokumentationsabteilung des Spiegel.
  • Der Spiegel reagierte nun, indem er seinen USA-Korrespondenten als Vermittler in den Ort im US-Bundesstaat Minnesota schickte.

Von David Denk

Es ist keine schöne Recherchereise, auf die sein Arbeitgeber Christoph Scheuermann geschickt hat. Der Washington-Korrespondent des Spiegel ist am Donnerstag nach Fergus Falls in Minnesota gereist, in "eine kleine und sehr kalte Stadt voller zuvorkommender Menschen, die erstaunlicherweise ihre Gutmütigkeit nicht verloren haben", wie er auf Facebook schreibt. Zu verdanken hat Scheuermann diese Mission seinem Kollegen Claas Relotius, bis Montag Reporter des Nachrichtenmagazins, der sich knapp einen Monat in Fergus Falls aufgehalten haben will, aber eine "Lügengeschichte" zurückgebracht habe, so Scheuermann. Wie seine Kollegen in Hamburg ist Scheuermann wütend und traurig, "mir ist das alles sehr peinlich".

Nachdem die Spiegel-Redaktion am Mittwoch einen der größten Medienskandale der vergangenen Jahre offengelegt hatte, wonach Relotius, der als Autor oder Co-Autor knapp 60 Texte bei Spiegel und Spiegel Online veröffentlicht hat, in vielen davon manipuliert und gefälscht hatte, Zitate und Protagonisten erfunden hatte, meldeten sich Michele Anderson und Jake Krohn, zwei Bewohner von Fergus Falls, mit einem Blogeintrag auf der Onlineplattform medium.com zu Wort. Seit der Spiegel-Veröffentlichung im März 2017 hätten sie sich mit den Fehlern in Relotius' Text beschäftigt, schreiben sie, zwischendurch pausiert und sich dann diesen Herbst wieder drangesetzt, "gerade rechtzeitig, um heute zu erfahren, dass Relotius nach der Aufdeckung von Erfindungen in vieler seiner Artikel gefeuert wurde". Ob der Druck dieser Recherche dafür ausschlaggebend war, dass der Spiegel am Mittwoch an die Öffentlichkeit ging, ist unklar, aber nicht auszuschließen.

SZ MagazinIn eigener Sache
:SZ-Magazin vom Fall Relotius betroffen

Auch das "SZ-Magazin" hat im Jahr 2015 zwei manipulierte Interviews von Claas Relotius veröffentlicht, der umfangreiche Fälschungen im "Spiegel" eingestanden hat.

Auch andere Medien, für die Relotius vor seiner Festanstellung beim Spiegel frei arbeitete, sind von den Fälschungen betroffen, darunter, wie eine erneute Prüfung ergab, auch das Magazin der Süddeutschen Zeitung, in dem Relotius 2015 zwei Interviews veröffentlicht hatte.

Der Spiegel widmet sich in der Titelgeschichte seiner aktuellen Ausgabe intensiv der Aufarbeitung des Falls und stellt 23 Seiten frei ins Netz.

In ihrem Blogeintrag listen Anderson und Krohn die elf aus ihrer Sicht "absurdesten Lügen" in der Reportage "In einer kleinen Stadt" auf, so etwa die, dass man dort besessen sei von dem Hollywoodfilm American Sniper, der auch zwei Jahre nach dem Kinostart noch immer gezeigt werde. Und was fanden die beiden Factchecker aus Fergus Falls heraus? Rund einen Monat, vom 16. Januar bis zum 19. Februar 2015, wurde American Sniper im örtlichen Kino gezeigt, schrieb ihnen eigenen Angaben zufolge der Betreiber des Kinos per Mail. Der Spiegel hat die Vorwürfe auf seiner Website dokumentiert, "ohne bislang jeden einzelnen überprüft zu haben". Das ist nun auch Scheuermanns Aufgabe. Ziel der Reise sei es, "ein besseres, realistisches Bild dieser Stadt" zu zeichnen, schreibt er auf Facebook, das hätten die Menschen verdient.

Der angebliche Filmgeschmack der Bewohner von Fergus Falls war eines dieser Details in den Geschichten von Relotius, die gespenstisch gut zu seinen Arbeitsaufträgen passten. So irre gut, dass der Mann nur zweierlei sein konnte: Genie - oder Scharlatan. Aber misstrauisch wurden nur wenige. Im Fall der Geschichte über Fergus Falls war die Idee der Redaktion, schreibt Spiegel-Edelfeder Ullrich Fichtner in seiner umfangreichen Rekonstruktion des Falls Relotius, "die ersten Monate von US-Präsident Trump nicht immer nur von oben herab aus europäischer Sicht zu verteufeln, sondern sie auch einmal aus der Perspektive derer anzuschauen, die den großen Donald mutmaßlich gewählt hatten". Etwa der von Neil Becker, einem 57 Jahre alten Kohlewerksarbeiter, der in Wahrheit Doug Becker heißt, für einen Paketdienst arbeitet und lange ein Fitnessstudio geleitet hat.

Relotius hatte Probleme, Protagonisten zu finden, das Gewünschte zu liefern, räumt Ullrich Fichtner in seiner Rekonstruktion ein. Erschienen ist die Geschichte schließlich trotzdem. "All das ist gelogen, einfach alles, es ist ausgedachter Mist", empört sich Fichtner. Relotius habe die Recherche jederzeit abbrechen können, versichert Fichtner, ohne negative Konsequenzen. Trotzdem blieb er. Warum? "Relotius will das nicht akzeptieren", schreibt Fichtner. Es ist eine für ihn und den Spiegel bequeme Erklärung, ein überehrgeiziger Reporter, kein Fehler im System - aber ist es auch die ganze Wahrheit?

Der US-Blogeintrag ist eine Ohrfeige für ein Magazin, dessen Markenkern tiefschürfende, ausdauernde Recherchen sind, und wirft kein gutes Licht auf die Dokumentationsabteilung, in der 60 Mitarbeiter damit beschäftigt sind, alle Namen, Daten und Fakten vor der Veröffentlichung zu prüfen. Eine Diplomarbeit von 2008 kommt auf 1153 Änderungen durch die Spiegel-Dokumentation in einem Heft. Zieht man Rechtschreibfehler und Stilkorrekturen ab, blieben 599 korrigierte Fehler und weitere 400 Ungenauigkeiten. Einen vergleichbaren Apparat leistet sich kein zweites deutsches Medium. "In Zeiten von Fake News ist die Dokumentation ein Pfund, mit dem der Spiegel gern wuchert", heißt es in einem Text, der sich mit den "Grenzen und Schwächen des Sicherungssystems" auseinandersetzt, dessen Totalversagen in den kommenden Monaten von einer dreiköpfigen Kommission untersucht werden soll.

Dass Relotius' Geschichten meist im Ausland spielten, begünstigte den Betrug

Die "Dok", wie die Abteilung intern genannt wird, soll Leiter Hauke Janssen zufolge bei allem Kooperationsgeist der "natürliche Feind" des Journalisten sein, dessen Arbeit sie hinterfragt. In dem Spiegel-Text in eigener Sache heißt es defensiv: "Grundsätzlich nicht angelegt sind Routinen, die darauf zielen, die persönliche Integrität von Redakteuren durch Dokumentare zu überprüfen. Letztere seien keine interne Stasi, sagt man beim Spiegel." Im Fall der Reportage aus Fergus Falls hat die "Dok" Fehler nicht ausgebessert, die leicht zu verhindern gewesen wären, wie die korrekte Entfernung nach New York (1888 Kilometer statt 2200), aber vor allem für die viel gravierenderen kein Sensorium gezeigt. Der Dokumentar "schützt das Haus vor Schlampigkeit und vermeidbaren Fehlern, aber kriminelle Energie unterstellt er nicht", schreibt der Spiegel. Claas Relotius hat das ausgenutzt, um Märchen zu erzählen. "Das System hat gegenüber einem Betrüger versagt, und dies muss Folgen haben." Welche, blieb am Freitag auf SZ-Anfrage unbeantwortet.

"Wir werden die Aufarbeitung der Vorgänge abwarten, bevor wir uns im Detail zu möglichen Fehlerquellen oder Konsequenzen äußern", hieß es aus der Spiegel-Pressestelle. Relotius' Märchen ist unter anderem bebildert mit dem vom Autor fotografierten angeblichen Kohlearbeiter Becker. Es gibt ihn also, irgendwie. Dieser kriminellen Kreativität, der geschickten Vermischung von Realität und Fiktion, mit der Relotius alle täuschte, wäre wohl von Hamburg aus nur mit sehr viel Misstrauen beizukommen gewesen. Dass die meisten seiner Geschichten im Ausland spielten, oft in Kriegs- und Krisenregionen, begünstigte den Betrug, den viele im Falle des ebenfalls betroffenen Interviews mit Traute Lafrenz, der letzten Überlebenden der "Weißen Rose", als besonders schamlos empfinden.

Im Gegensatz zu Relotius hat Spiegel-Kollege Scheuermann den Bürgermeister von Fergus Falls getroffen. Ben Schierer habe ihn "mit großzügigem Lächeln und sehr festem Händedruck" empfangen, schreibt Scheuermann, und habe Vergebung zugesichert: "We are forgiving people." Ob seine Leser auch dem Spiegel verzeihen werden, ist eine Frage, die nicht nur die Redaktion in Hamburg umtreibt, sondern alle Journalisten im Land.

© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Fälschungen beim "Spiegel"
:"Ich wusste, dass er lügt"

Die Fälschungen des Reporters Claas Relotius treffen den "Spiegel" hart. Sein Kollege Juan Moreno deckte den Fall auf. Ein Gespräch über die Probleme bei der Enttarnung und Relotius' brillante Lügen.

Interview von Ralf Wiegand

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: