Gut, dass sie alle tot sind. Die Dorfbewohner hatten die Familie Boone längst als Ursache für ihr Unglück ausgemacht. Besonders für die Seuche, die noch immer wie ein Gespenst von Haus zu Haus geht. Wer, wenn nicht diese verfluchte Familie, soll die Krankheit eingeschleppt haben? Dazu ihr komisches Verhalten und dieses alte Anwesen: Chapelwaite. Glück hatte keiner der bisherigen Bewohner. Es knarzt und rumpelt in dem alten Gemäuer. Hausen nur Ratten in den Wänden? Oder liegen die Probleme tiefer, in der Erde und in den Köpfen der Menschen?
Verständlich, dass Charles Boone die Dinge anders angehen möchte. Er war Kapitän eines Walfängers, nach dem Tod seiner Frau will er auf dem Anwesen der entfernten Familie mit den drei Kindern ein neues Leben beginnen: Die alte Mühle neu organisieren, die Wirtschaft in dem Städtchen ankurbeln, den Tod der Frau überwinden. Adrien Brody spielt diesen melancholischen Witwer, den immer wieder groteske Wutanfälle plagen und der glaubt, die Krankheit seiner Familie sei eine Krankheit des Geistes gewesen. Viele Boones sehen Würmer, wo keine sind, träumen sogar von ihnen. Charles fürchtet, längst nicht mehr der Herr im eigenen Haus zu sein.
"Chapelwaite" ist inspiriert von einer frühen und sehr untypischen Kurzgeschichte Stephen Kings. "Briefe aus Jerusalem" oder in der neuen Übersetzung "Jerusalem's Lot" (nicht zu verwechseln mit Kings Roman "Salem's Lot") erschien 1978 in der Kurzgeschichtensammlung "Nachtschicht" und erzählt in mehreren Briefen von den Nachforschungen Charles Boones auf dessen Anwesen, das verflucht sein soll. King ruft hier schon in der Form einer Erzählung in Briefen eine alte Tradition des Schauerromans auf, wie sie im 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Er spielt auf Edgar Allan Poes "Der Untergang des Hauses Usher", Nathaniel Hawthorne und H.P. Lovecraft an. Eine nicht ganz unproblematische Linie. Lovecraft vertrat rassistische Ansichten, und in den Geschichten Hawthornes wird immer wieder eine klare Linie gezogen zwischen der christlichen, zivilisierten Stadt der europäischen Kolonisatoren und der amerikanischen Wildnis, wo die Heiden hausen und in den Wäldern der Teufel lauert.
Der einzige schwarze Arbeiter der Mühle wird ausgeschlossen und gemobbt
Aber an genau dieser Stelle setzt "Chapelwaite" an, schon mit der tristen, aber durchweg gelungenen Kulisse, die genau die Atmosphäre dieser Schauerliteratur trifft. Kings Vorlage ist eher ein Motivgeber, die Serie entwickelt ihre Geschichte und ihr Setting aus dem ganzen literarischen Kontext, den die Erzählung aufruft. Boones verstorbene Frau war in der Serie nicht weiß, ihre Kinder sehen den amerikanischen Ureinwohnern ähnlich und werden von den heuchlerischen Christen des Dorfes ablehnend und beleidigend behandelt. Der einzige schwarze Arbeiter der Mühle wird ausgeschlossen und gemobbt, darf nicht einmal den Saloon betreten. Die psychischen Probleme Boones und seiner Familie werden ihnen zum Vorwurf gemacht.
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Der Horror hat in den USA oft gesellschaftliche Ursprünge, und "Chapelwaite" vermischt sehr geschickt Motive aus der Geschichte der unheimlichen Literatur mit den Formen des Rassismus und Fremdenhasses, die erst jetzt, Jahrhunderte später, thematisiert werden. Geschwelt haben diese Themen natürlich schon damals, und die Wurzeln dieses Hasses gehen tief. Das Unheimliche an "Chapelwaite" ist weniger das Übernatürliche und Unerklärliche, mit dem diese sehr gelungene Serie auch spielt, als das langsame Abdriften Boones in den Wahnsinn: Es ist nicht das Unsichtbare oder Verborgene, das Angst einjagt. Es sind die Schrecken des helllichten Tages.
Chapelwaite, zehn Folgen, bei Magenta TV