Methoden der Castingagenturen:Agenten fürs Asoziale
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"Wir haben oft geweint": Eine Castingagentin für Doku-Soaps musste sich für ihren Job auf die Suche nach menschlichem Elend machen - bis sie nach fünf Monaten ihre Arbeit nicht mehr ertragen hat. Ein Bericht aus dem unbarmherzigen Alltag von Castingagenturen.
Christin Müller
Die Namen sind harmlos. Sie heißen "Schwiegertochter gesucht", "Schwer verliebt", "Extrem schön" oder "Mietprellern auf der Spur". Sie locken Tag für Tag Millionen Deutsche vor den Fernseher und bescheren den privaten Fernsehsendern dank billig produzierter Sendeminuten traumhafte Renditen. Doch die sogenannten Doku-Soaps mit ihren Spielarten wie Entertaining Reality oder Scripted Reality haben einen unstillbaren Durst an unverbrauchten Gesichtern mit unglaublichen Geschichten.
Kathrin Sand hat ihr Geld damit verdient, diesen Durst zu stillen. Nach fünf Monaten hat sie ihren Job hingeschmissen, weil sie nicht mehr konnte. Ihr gingen, wie vielen ihrer Kolleginnen, die Methoden der Produktionsfirma zu weit. "Kollegen haben oft geweint, ich auch", sagt Kathrin Sand, die ihren richtigen Namen nicht verraten möchte, weil sie den Druck ihres früheren Arbeitgebers fürchtet.
In der RTL-Dokusoap "Mietprellern auf der Spur" durchstöbert die frühere Nachmittagstalkerin Vera Int-Veen mit einem Kamerateam verdreckte, vermüllte und oftmals verschimmelte Wohnungen, die sogenannte Mietnomaden hinterlassen haben. Die Kamera beleuchtet Überreste aus dem Leben gescheiterter Existenzen mit voyeuristischer Freude. Von den Mietern fehlt jede Spur, doch Moderatorin Int-Veen macht es sich in der Sendung zur Aufgabe, den Übeltätern auf die Spur zu kommen - und sie bloßzustellen.
Derzeit geht die Niedersächsische Landesmedienanstalt dem Vorwurf nach, dass sie sich und dem Kamerateam im Juli unerlaubt Zugang zu einer Wohnung verschafft haben soll.
Kein Einzelfall: Für eine Folge der Doku-Soap "Die Super-Nanny", in der es um anscheinend ungehaltene Kinder geht, mit deren Erziehung die Eltern überfordert sind, erhielt RTL zuletzt einen Bußgeldbescheid über 15.000 Euro. Die Sendung, die im Mai 2010 ausgestrahlt wurde, dokumentiert einen Fall von Kindesmisshandlung. Eine Mutter schlägt und beschimpft ihr Kind, weder Kamerateam noch Redakteure greifen ein. Zu sehen war die Entblößung häuslicher Gewalt nicht nur im Fernsehen, sondern auch im Internet.
Aber wie kommen die Sender überhaupt an die Charaktere, die sich für wenig Geld öffentlich zur Schau stellen? Die traurige Wahrheit: Die meisten melden sich von selbst auf die Aufrufe der Sender, glauben an die Verheißungen einer neuen Liebe, einer neuen Inneneinrichtung, eines neuen Aussehens.
Zu den direkten Castings bieten die Sender ausgiebig Gelegenheit; wer den Fernsehaufruf mit der eingeblendeten Telefonnummer zur neuen Staffel verpasst, kann sich auch im Internet bewerben. Immer mit Foto. Immer mit einer Fülle privater Angaben. Die Aufgabe von Kathrin Sand bestand dann darin, die Menschen auszuwählen, die vom Schicksal besonders gebeutelt waren.
"Auf Intimsphäre wurde zu keiner Zeit Rücksicht genommen", erinnert sich die Casterin. Der Bewerber habe sich schließlich freiwillig zur Verfügung gestellt, lautete das Totschlagargument ihrer Firma. Jeder Kandidat musste Fragen zu Gewicht, Konfektionsgröße, Krankheiten oder sogar Todesfällen, die einen womöglich aus der Bahn geworfen haben, beantworten. Entsprach der Bewerber dem gewünschten Profil, kam er eine Runde weiter.
Das letzte Wort lag bei Sands Vorgesetzten. Mit ihren Versuchen, das Auswahlverfahren etwas menschlicher zu gestalten, scheiterte sie am Veto der Chefs.
Schon der Internet-Aufruf der Programme wirkt perfide. Bei "Schwiegertochter gesucht" etwa sollte man unter anderem noch zu Hause bei Mutti wohnen, und diese sollte "mit Rat und Tat zur Seite stehen", heißt es auf der Internetseite.
Egal, ob beim unbeholfenen Schokoladendinner in der Badewanne, beim Modellieren des Gebisses in der Zahnarztpraxis oder beim Schuldengespräch mit dem unbarmherzigen Sparkassenmitarbeiter: Der Bewerber soll so weit wie möglich von der gesellschaftlichen Norm abweichen, sonst könne sich der Zuschauer weder lustig machen noch aufregen oder Mitleid empfinden, so die Begründung.
Damit auch kein Lacher ausbleibt, verstärken die Produktionsfirmen die peinlichen Auftritte mit Effekten. So wird bei "Bauer sucht Frau" aus einem harmlosen in Thai-Deutsch genuscheltem " Ich bin fix und fertig" im RTL-Untertitel "Ich bin fick und fertig". Noch eins draufgesetzt hat der Sender beim Format "Schwiegertochter gesucht": Der Auftritt einer Bewerberin, die aufgrund ihrer Leibesfülle Probleme hat, durch eine Zimmertüt zu kommen, wird mit dem Quietschen von ächzendem Holz unterlegt. Das Ganze landet dann sogar in Satire-Formaten wie "TV Total".
Aber das ist noch lange nicht alles im Alltag eines Castingagentur-Mitarbeiters. Schlimmer als die Selektion der freiwilligen Bewerber war für Kathrin Sand, wenn sie aktiv nach geeigneten Akteuren suchen musste.
Für Formate, bei denen der Bewerberansturm zu wünschen übrig ließ, musste sie in verschiedenen Dörfern anrufen: Vom Bürgermeister bis zum Friseur haben die Caster wahllos Menschen angerufen, um ein fernsehtaugliches Schicksal aufzuspüren. Geeignete Kandidaten wurden dann verfolgt, auch wenn die betroffenen Personen zu Beginn weder etwas von sich preisgeben wollten noch einen besonderen Wunsch gehegt haben, mit ihrem Schicksal ins Fernsehen zu kommen. So geschehen bei einer Frau, die ein Familienunternehmen betreibt, und deren Mann eine Woche vor dem Anruf einem Herzinfarkt erlag. Ins Fernsehen kam sie trotzdem.
"Wir mussten aus Leuten, die ganz arm dran waren, alles rauskitzeln", sagt Sand. Habe sich die Geschäftsleitung in einen potentiellen Treffer verbissen, habe es keine Alternative gegeben. "Es hieß, die haben kein Interesse und wurden trotzdem wieder und wieder angerufen". Bei manchen entnervten Teilnehmern zahlte sich die Hartnäckigkeit auch aus. Und hatten sie einmal zugesagt, gab es kein Zurück, sie wurden mit Verträgen "dazu geknechtet", sagt die Casterin.
"Nicht asozial genug"
An ihre "krasseste Story" erinnert sie sich voller Mitleid. Eine verzweifelte Mutter bewarb sich für eine der zahlreichen Shows, da sie es in ihrem Leben nicht mehr aushielt. Ein Familienmitglied wählte bereits den Selbstmord, andere waren davor, auf die schiefe Bahn zu geraten. In die Show schaffte es die sonst eher bürgerliche Familie dennoch nicht. Die Begründung: "Nicht asozial genug".
Habe ein Caster bemerkt, dass ein Bewerber nicht für das Format geeignet erscheint, habe er so schnell wie möglich die Gespräche abbrechen müssen, so Sand. Dann hieß es "Wir melden uns bei Neuigkeiten". Auf Absagen und die Angabe von Gründen wurde verzichtet. Kathrin Sand sagt, sie habe die Abgewiesenen dann trotzdem zurückgerufen.
Nach nur fünf Monaten hat Kathrin gekündigt. Das Geschäft mit dem Elend hat sie fertiggemacht. Ihre Chef hat damit kein Problem. Seine Empfehlung an seine Mitarbeiter: "Man muss es mit schwarzem Humor sehen".