Süddeutsche Zeitung

Carey Mulligan und "Variety":"Als wäre ich nicht scharf genug"

Die Schauspielerin Carey Mulligan beschwert sich über eine Rezension, das Magazin "Variety" entschuldigt sich. Über die Frage, wo Filmkritik aufhört und wo Sexismus anfängt.

Von Elisa Britzelmeier

Dass Künstlerinnen und Künstler nicht einverstanden sind mit dem, was die Kritik über sie schreibt, ist weit verbreitet. Dass eine Schauspielerin sich aber so wehrt wie nun Carey Mulligan, ist dann doch selten. Ebenso, dass ein Magazin sich entschuldigt für eine Rezension, die ja zuvorderst eine Meinungsäußerung ist. Der aktuelle Fall wirft jedenfalls die Frage auf, wo Filmkritik aufhört - und wo Sexismus anfängt.

Es geht um den Film Promising Young Woman mit Mulligan in der Hauptrolle - und um eine Rezension, verfasst vom langjährigen Kritiker Dennis Harvey im Branchenblatt Variety. Bereits vor einem Jahr ist sie erschienen, damals lief der Film beim Sundance Film Festival, inzwischen ist er in Teilen der USA im Kino zu sehen; der Start in Deutschland steht noch aus.

Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die auf Rache sinnt, nachdem ihre beste Freundin bei einer College-Party vergewaltigt wurde. Zur Bewältigung hängt die Heldin des Films jetzt in Clubs herum, scheinbar sturzbetrunken, um sich abschleppen zu lassen von Typen, die ihren fast bewusstlosen Zustand ausnutzen wollen. Bis sie sich, zack, als hellwach und nüchtern offenbart - und diesen Männern vorführt, was sie da eigentlich tun. Das werde "eine heftige Debatte" auslösen, schrieb Harvey.

Auf Twitter gibt es längst die Forderung, Harvey nie wieder irgendeinen Text schreiben zu lassen

Die gibt es nun auch, allerdings wegen Harveys - über weite Strecken durchaus wohlwollender - Kritik. Denn er hatte auch geschrieben: Mulligan erscheine als "etwas merkwürdige Wahl" für die Darstellung der Femme fatale. Man könne sich gut vorstellen, dass die Rolle ursprünglich für Margot Robbie gedacht gewesen sei, die bei dem Film als Produzentin fungiert; bei Mulligan hingegen wirkten die Aufreiß-Outfits und langen blonden Haare "aufgesetzt". Robbie, so viel zur Erinnerung, hat Sharon Tate gespielt in Once Upon A Time in Hollywood oder die Liebhaberin von Leonardo DiCaprio in Wolf of Wall Street. Rollen also, die ganz bewusst auf Sexyness hin konstruiert sind. Mulligan dagegen wurde eher durch Rollen als schüchternes Mädchen bekannt (An Education).

Es erscheint also so, als nehme der Kritiker weder Mulligan als Hauptdarstellerin ernst noch Robbie als Produzentin, indem er beide in ihre altbekannten Rollen drängen will. Für Mulligan fühlte sich Harveys Kritik so an, sagte sie der New York Times, "als wäre ich nicht scharf genug" für die Rolle. Sie störte sich besonders daran, dass der Eindruck entstehen könnte, es sei völlig in Ordnung, eine Schauspielerin zuvorderst nach ihrem Aussehen zu bewerten.

Bei Variety bedauerte man die unsensible Wortwahl. Die Rezension steht zwar unverändert online, aber inzwischen ergänzt mit der vorausgeschickten Entschuldigung der Redaktion. Auch Harvey selbst hat sich geäußert. Er habe es nicht so gemeint, und er verwahrt sich dagegen, als misogyn hingestellt zu werden, sagte er dem Guardian. Ihm als 60-jährigem schwulen Mann liege es fern, junge Schauspielerinnen ihrem Äußeren nach zu vergleichen. Worauf ihm auf Twitter entgegnet wurde, seine sexuelle Orientierung mache ihn nicht immun dagegen, sexistische Dinge zu schreiben. Dort gibt es unterdessen längst auch die Forderung, Harvey nie wieder irgendeinen Text schreiben zu lassen, am liebsten nicht mal Einkaufszettel.

Nun kann man fragen: Was heißt das für die Arbeit von Kritikerinnen und Kritikern? Das Aussehen von Schauspielerinnen und Schauspielern ist ja tatsächlich nicht egal. Auch bei Männern nicht. Als Bruce Willis damals in Stirb langsam spielte, galt er zunächst als Fehlbesetzung, schließlich kannte man ihn als Romcom-Seriendarsteller. Als Actionhelden war das Publikum dagegen vor allem Testosteronschleudern wie Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger gewohnt. Die ersten Zuschauer jedenfalls lachten über Willis, das Studio entfernte ihn teilweise von den Filmplakaten. Das Beispiel aus den Achtzigerjahren zeigt, wie sehr der Blick auf Schauspielerinnen und Schauspieler mit Erwartungen zusammenhängt, die mit ihrem Äußeren und ihrem bisherigen Auftreten zu tun haben. Aber auch, wie grundlegend sich dieses Image wandeln kann - Bruce Willis ist heute selbstverständlich ein Actionstar. Genau das ist eigentlich der Job von Schauspielern: Sie geben ihr Gesicht und ihren Körper her, um jemand anderes zu werden.

Die Reaktion auf Harveys Kommentar lässt sich auch damit erklären, dass sein Text sich so liest, als sei an dem Kritiker in großen Teilen vorübergegangen, worum es in dem Film geht. Es genügt ein Blick auf die erste Szene, da ist Adam Brody zu sehen, den man aus O. C., California und Gilmore Girls als anständigen, netten Jungen kennt. In Promising Young Woman spielt er einen Typen, der sich für ebenso nett und anständig hält, es aber eben nicht ist. Das Casting ist hier also entscheidend.

Harvey sagt, er habe nicht zu viel über Figuren und Plot verraten wollen

Und so ist eben auch Mulligan eine bewusste Besetzung. Die Regisseurin und Autorin des Films, Emerald Fennell, sagte selbst (übrigens in einem Interview, das auch in Variety erschienen ist), Mulligan sei ihre Wunschkandidatin gewesen, eben weil sie die überraschendere Wahl sei. Wohingegen Margot Robbie eher den Erwartungen entsprochen hätte.

Das Perfide ist eben genau das: Von Erfahrungen, wie Mulligans Figur sie in Promising Young Woman macht, können viele Frauen erzählen, dazu muss man keine Sexbombe sein und kein Hollywoodstar. Womöglich wird Harveys Bemerkung deswegen als so deplatziert wahrgenommen, auch wenn andere schon weitaus Sexistischeres über Schauspielerinnen geschrieben haben. Oder wie Mulligan sagt: "Ausgerechnet zu diesem Film schreibt man etwas so Durchschaubares? Jetzt? Im Jahr 2020?" Alles in allem führten Äußerungen wie die Harveys dazu, so Mulligan, dass Frauen in Hollywoodfilmen zu selten als ganz normale Menschen zu sehen seien.

Harveys spätere Erläuterungen lesen sich dann so, als sei ihm das eigentlich klar: Er habe Robbie nur erwähnt, um zu zeigen, wie das Casting des Films auf subversive Art die Erwartungen unterlaufe, sagte er dem Guardian. Ob seine Kritik ohne den strittigen Satz irgendetwas an ihrer Aussagekraft verloren hätte? Dazu sagt Harvey nichts. Nur so viel: Er habe nicht zu viel über Figuren und Plot verraten wollen.

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