"Berliner Runde" zur Bundestagswahl:Ohne Tattoos, dafür mit Alice Weidel

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AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel kann rechnen, dass es wehtut. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Das erste Treffen der Spitzenkandidaten nach der Wahl verläuft zwischen Selbstverleugnung oder Schadenserfassung. Die AfD-Frau Alice Weidel immerhin zeigt, wie weit man rechnen kann, wenn man es nur wirklich will.

TV-Kritik von Cornelius Pollmer

Diese "Berliner Runde" wirkt zunächst wie ein Wurmfortsatz des Wahlkampfs. Man kennt vergleichbare Sendungen aus dem Privatfernsehen, wo Dating-Formate gerne um eine in Teilen therapeutische, in noch größeren Teilen sinnlose Aussprache verlängert werden. Bei "Die Bachelorette - das große Wiedersehen" sitzen tätowierte Männer, die bei einer Gegenüberstellung kaum jemand sicher auseinanderhalten könnte und reden darüber, warum's für sie nicht ganz so gut gelaufen ist.

Die "Berliner Runde" ist ähnlich, nur ohne Tattoos, dafür aber mit Alice Weidel von der AfD. Weidel flüstert zunächst ein paar Mal gruselig dazwischen als sie gar nicht dran ist ("echt?"), und legt dann zum Ergebnis ihrer Partei eine Interpretation vor, die auf einem Milchmädcheninternat mit Sternchen ausgezeichnet würde. Die von den Parteien Die Basis und Freie Wähler gezogenen Stimmen müsse man aus Sicht der AfD als "Sondereffekte" bewerten. Bereinigt um diese sei das Wahlergebnis der AfD sogar besser als 2017. Das ist so lustig, dass es wehtut. Vielleicht auch andersrum.

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Vor allem aber führt es direkt zum Kern des Formats, das eine Mischung ist aus ermüdend-nüchterner Wahlnachlese und politischem Bleigießen - alle haben einen andersförmigen Klumpen in der Schüssel, fast alle sagen, die Gestalt ihres Klumpens sei ganz unbestreitbar: ein klarer Regierungsauftrag!

So zu agieren versuchen am Sonntag vor allem Armin Laschet und Markus Söder. Nachdem Söder monatelang Laschet bekämpft hat und Laschet die Grünen, umarmt der eine jetzt den anderen ("meinen Respekt und meine Unterstützung") und der andere die, die er gerade noch "pfui Spinne!" fand. Es ist wirklich erstaunlich, wie Laschet und Söder unabhängig mindestens von Details des Wahlergebnisses gleich wieder das Regieren anstreben wie Motten das Licht. Selbst wenn dieses Streben wieder einmal erfolgreich sein sollte, so wirkt es doch, bei aller Liebe für den Parameter Kampfgeist, auch traurig und einigermaßen wahnhaft.

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Das Publikum hat viel mitgemacht in diesem Wahlkampf

Wesentlich bestimmen darüber werden Christian Lindner und Annalena Baerbock "mit Robert Habeck", wie sie bei fast jeder Gelegenheit anfügt. Das könnte in einer besseren Welt kollegial wirken, in der gegenwärtigen wirkt es kleinmachend. Während Laschet nach Maskendeals von Unionspolitikern, nach deutlichen Verlusten und 16 Jahren CDU-geführter Regierungen gleich wieder Wortklauberei betreibt und eine "Zukunftskoalition" mit FDP und Grünen in Aussicht stellt, räumt Baerbock nach deutlichen Grünen-Gewinnen verglichen mit 2017 auch in der "Berliner Runde" eigene Fehler ein. Selbstverleugnung oder Schadenserfassung, die Wahl ist für Spitzenpolitiker auch nach 18 Uhr eine Herausforderung. Aber nicht nur die handelnden Akteure haben, auch das Publikum hat viel mitgemacht in diesem Wahlkampf und es reibt sich spätestens jetzt erneut die Augen.

Lindner sitzt lange da wie eine Sphinx. Vielleicht blättert er in Gedanken schon im Vitra-Katalog nach einem Stuhl, der bald in jenem Büro stehen könnte, das derzeit Olaf Scholz gehört. Scholz immerhin macht beim Wahlnachlese-Teil zwei Mal den Punkt, dass manche Parteien in der Runde zugelegt hätten (SPD, Grüne, FDP), andere hingegen nicht (Union, AfD, Linke). Sonst übt er sich weiter in Merkel-Mimikry und versucht mit jener Zurückhaltung zu überzeugen, die Merkel etwa in der - man kann es wirklich nicht anders sagen - legendären "Berliner Runde" 2005 so gut stand. Auch damals stand zunächst die Frage, wer bald Koch sei und wer Kellner - bis der Hömma- und Samma-Kanzler Schröder eine andere beantwortete, nämlich die, wie hammerhart man sich im nationalen Fernsehen gehen lassen kann.

Nun glaubt ja niemand im Ernst, dass seine Partei (SPD) oder die von Laschet (CDU) in dieser hochkomplizierten Ergebnislage jetzt Ansagen machen sollten. In der "Berliner Runde" verdichtete sich vielmehr eine interessante strategische Nachricht des Wahlabends, nämlich die, dass mit FDP und Grünen zunächst die potenziell kleineren Partner miteinander sprechen könnten, um dann zu prüfen, wer am besten als Kanzler über oder unter oder, unerhörter Gedanke: sogar mit ihnen regieren solle.

Hier nun begann das Bleigießen des Publikums. Manche sahen in der Runde bereits eine klare Tendenz zu Jamaika, andere zur Ampel. Nichts Genaues wird man auch morgen noch nicht wissen. Sicher ist nach diesem Abend nicht viel, doch aber dies: Weitere Sondereffekte sind absolut nicht auszuschließen.

Cornelius Pollmer liebt Helmut Dietls Film "Late Show", besonders dessen letzte Szene. In einer von Thomas Gottschalk moderierten Talkshow zieht die Runde über deutsches Fernsehen her. Das Beste daran seien für ihn "ohnehin Tierfilme", konstatiert ein Gast - und die vis-à-vis sitzende Veronica Ferres sekundiert, "die sind so menschlich!" (Foto: N/A)
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