Buch über soziale Medien:Das verstörende Online-Leben von Teenagern

The Bling Ring

Händchen für brisante Stoffe: Nancy Jo Sales lieferte schon die Buchvorlage für Sofia Coppolas Film "The Bling Ring".

(Foto: Merrick Morton)

Was bedeuten mehr als 750 000 Nachrichten bei Snapchat? Wozu lädt die Frage "got kik?" ein? Der Bestseller von Journalistin Nancy Jo Sales lässt amerikanische Eltern die Luft anhalten.

Von Anne Philippi, New York

Nancy Jo Sales ist genau die Person, mit der man im New Yorker Marlton Hotel beim Lunch sitzen möchte, wenn Bradley Cooper und ein Typ mit Justin-Bieber-Haarschnitt am Nebentisch herumlungern. Sales kennt alle Cooper-Theorien. Auch die, die ihr Courtney Love neulich erzählt hat. Sales sagt, Cooper sei an seinen Ohren zu erkennen. Selbst, wenn sie die Ohren nicht sehen könnte, würde sie merken, dass hier links neben uns ein Star sitzt. Sales bemerkt Stars selbst dann, wenn sie mit dem Rücken zu ihnen steht. "Das stammt noch aus der Zeit, als ich beim National Enquirer gearbeitet habe", sagt sie.

Die Zeiten liegen lange zurück, Sales wurde keine Klatschreporterin oder Society-Besprecherin. Stattdessen landete sie bei Vanity Fair und wurde eine der talentiertesten Erklärerinnen der irrsinnigen Celebritywelt der USA. Sales schreibt nicht böse und nicht snobistisch, dafür präzise.

2010 recherchierte sie über eine stehlende Teenagerbande, die in Hollywood in die Häuser von Prominenten wie Paris Hilton, Orlando Bloom oder Megan Fox einbrachen, um sich deren Schmuck "auszuleihen". Aus dem Artikel entstand 2010 das Buch The Bling Ring, Sofia Coppola drehte den Film dazu. Jetzt hat Sales einen Bestseller geschrieben, der amerikanische Eltern die Luft anhalten lässt.

Expertin für Dysfunktionalitäten bei Teenagern

American Girls: Social Media and the Secret Lives of Teenagers ist ein Trip in die Parallelwelt der sozialen Netzwerke von Snapchat, WhatsApp oder YikYak und wie Teenager darin leben. Derzeit tourt Sales mit dem Buch durch die Talkshows und klärt Mütter darüber auf, was es bedeutet, wenn die Tochter mehr als 750 000 Nachrichten bei Snapchat verschickt hat. Und was es heißen könnte, wenn ihr Sohn den Messenger Kik benutzt, einem Mädchen "got kik?" schreibt und eigentlich meint: "Willst du Sex?"

Sales ist Expertin für Dysfunktionalitäten bei Teenagern. Sie versteht ihre Sprache, ihre Geheimnisse, sie ist eine Art Teenagerflüsterin. Vor ein paar Jahren, da war wieder so ein Moment, als Sales mit ihrer Kunst diese neue Welt der digitalen Teenagerkommunikation für Vanity Fair auflösen sollte. "Gradyon Carter, mein Chef bei Vanity Fair, rief mich an und sagte: Nancy, worum geht es eigentlich bei all den Horrorgeschichten über Selbstmordfälle von Teenager-Mädchen in der Social Media Welt? Er bezog sich auf die aufkommenden Fälle von Cyberbullying, über die man vor drei Jahren noch nicht wirklich sprach", sagt Sales.

Sie legte los mit der Recherche, schrieb eine Reportage über die neue digitale Hook-Up-Kultur, in der Sex bestellen wie Essen bestellen funktioniert und landete in einer "Zweiten Welt", wie ein Mädchen diese Welt in Sales Buch beschreibt: Die Welt der Texting-Apps und Social-Media-Plattformen, ein Paralleluniversum, das weder Papa noch Mama verstehen und auch nicht verstehen sollen.

Social Media zerstört Leben, aber ohne Social Media gibt es kein Leben

Sales traf 13- bis 19-Jährige in zehn Staaten der USA, sprach mit ihnen über ihre zweite Welt, über ihre frühe Ehe mit einem Smartphone. Eine 16-Jährige in Los Angeles sagte, Social Media zerstöre ihr Leben. "Aber wenn wir damit aufhören, haben wir kein Leben mehr." Mädchen ihres Alters lebten auf ihrem Telefon. Und das gilt auf der ganzen Welt. "Ich bekomme E-Mails aus Indonesien, in denen mir die Eltern schreiben: Meine Tochter dreht durch, wenn ich ihr Snapchat verbiete. Was sollen wir machen?", erzählt Sales.

"Vor Snapchat ist jeder gleich"

Was aber macht diese Welt so attraktiv? "Vor Snapchat ist jeder gleich. Es geht nicht um Geld oder darum, aus einer reichen Familie zu kommen", sagt Sales. Ein Argument, das auch im Silicon Valley gern bemüht wird: Das Internet ist für alle gleich und arme Einwanderer, sogar 18-Jährige, können mit einer einzigen App zum Milliardär werden.

Sales zufolge wachsen dafür die Obsession und die Sucht, es ohne Telefon nicht mehr auszuhalten. Nicht wenige Teenager benutzten soziale Medien aber nicht, um lustige Katzenbilder zu posten. Sondern um sich Nacktfotos zu senden, sich zum digitalen Sex zu verabreden oder pornografische Fotos an Klassenkameraden zu verschicken. Eltern sind geschockt, wenn sie damit in Berührung kommen. Auf Sales Lesetouren wollen diese Eltern ihre Geschichten loswerden. "Eine Mutter erzählte von zwei Au-pair-Mädchen, die die Familie zu Gast hatte. Sie mochte die beiden. Eines Abends aber wollte die Mutter Urlaubsbilder der Familie auf den Fernsehbildschirm laden - und sah plötzlich Nacktfotos der Mädchen und Geschlechtsteile der Jungen, mit denen sie kommuniziert hatten."

Für Sales ist das Thema jedoch nicht bloß eine Grenzüberschreitungsgeschichte. "Hier geht es um eine ganz neue Medienkultur", sagt Sales. "Eine, in der nach Regeln gespielt wird, die immer weniger mit Spaß zu tun haben." Was sie auch beobachtet hat: Diese neue Medienwelt wurzelt häufig an den prestigereichen Ivy-League-Unis. "Viele der App-Gründer sind männlich, wohlhabend und besuchten die besten Universitäten", sagt Sales.

Viele Apps erleben in den USA außerdem derzeit eine neue Welle der Kritik: Die Veränderung der menschlichen Basis, in Europa auch Seele genannt, ist durch den Einfluss von Technologie in vollem Gang und macht ab und zu auch hartgesottenen Tech-Gehirnen Angst. Begriffe wie Privatheit, Einsamkeit, Liebe, Sucht oder Ablenkung verändern sich derzeit durchs jeweils neue Apps und Tech-Ideen gefühlt stündlich.

Sales Buch mag an einigen Stellen etwas moralisieren, doch sie stellt die richtigen Fragen: Was genau ist heute die "reale" Welt? Und was passiert, wenn man wirklich versucht, mit einer App zusammenzuleben?

Anmerkung: In einer vorigen Version des Textes war zu lesen, dass Geschäftsmodelle der Tech-Welt auf einer Kultur basieren würden, deren Teilnehmer häufig am sogenannten Asperger-Syndrom leiden. Diese Menschen würden wiederum Apps kreieren, die Asperger verschlimmern, statt verbessern. Die Redaktion der Süddeutschen Zeitung hat sich entschieden, diese Passage aus dem Text zu entfernen, da es bislang keine wissenschaftlichen Belege dafür gibt, dass Apps die Symptomatik von Asperger beeinflussen oder gar auslösen.

Zwar wird das Asperger-Syndrom als Form der Entwicklungsstörung in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsproblemen aufgeführt, doch herrscht in der Medizin Uneinigkeit in der Frage, ob und in welchem Umfang Asperger überhaupt als therapiebedürftige Erkrankung eingestuft werden kann und soll. Sicher falsch ist, dass Asperger grundsätzlich Kontakte zu Mitmenschen verhindert oder Menschen mit Asperger per se als unangenehm empfunden werden.

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