Süddeutsche Zeitung

Presseschau zum Brexit:"Er will mit dem Kopf durch die Wand"

Viele Medien bestaunen weltweit den Kompromiss, den die EU und Großbritannien ausgehandelt haben. Einige warnen allerdings auch vor ungelösten Problemen - und dem britischen Premier.

Der Independent führt fünf Gründe auf, warum der "sogenannte Deal" abgelehnt werden sollte. Zusammengefasst heißt es dort:

Der Entwurf sei "sogar noch schlimmer als der vorherige. (...) Was Johnson vorschlägt, ist kein 'Deal'. Er behauptet zwar, sein Entwurf brächte den Brexit endlich - dabei wird er nichts dergleichen erreichen."

Der Guardian hält es für unwahrscheinlich, dass Boris Johnsons Brexit-Deal vom britischen Parlament abgesegnet wird:

"Johnson ist jetzt genau da angelangt, wo Theresa May vorher schon war mit ihrem ausgehandelten EU-Deal, der dann von Westminster blockiert wurde. Johnson könnte nun also seine eigene Medizin zu schmecken bekommen, war er damals doch der größte Rebell gegen May. Abgesehen davon ist sein Deal weitaus schlechter als der von May, zumindest für all die Anhänger eines sanften Brexits im Parlament, die zuvor versichert wurden, Großbritannien würde nah an der Europäischen Union angebunden bleiben."

Die Daily Mail feiert Boris Johnson:

"Boris Johnson hat seine Rolle in diesem Drama mit schierer Willenskraft und Persönlichkeit erstaunlich gut gespielt und das scheinbar Unmögliche möglich gemacht. (...) Der erreichte Deal bewahrt die enge Freundschaft mit Europa, berücksichtigt aber auch das Referendum, indem es uns erlaubt, die Kontrolle über unsere eigenen Gesetze, unser Geld, unsere Grenzen und unseren Handel zurückzugewinnen."

"Get real...Take the Deal" titelt die britische Sun - und ruft alle Abgeordneten dazu auf, Johnsons Entwurf zu unterstützen:

"Er ist um Welten besser als der von Theresa May. Und er wird uns in weniger als zwei Wochen aus der EU bekommen, so, wie es der Premierminister versprochen hat. (...) Unser gespaltenes, paralysiertes Land sehnt sich danach, den Brexit endlich hinter sich zu bringen. Boris' Deal wird das erledigen."

Der amerikanische Nachrichtendienst Bloomberg (New York) stellt die "Lämmer" in den Fokus, die beide Seiten zu opfern hatten. Johnson hätte demnach den Backstopp zwar verhindert, dafür aber enorme Zugeständnisse machen müssen:

"Nordirland bleibt zwar rechtlich Teil des britischen Handelsgebietes, muss aber die Zolltarife und -regeln der EU übernehmen und sich bei den meisten Gütern den europäischen Regularien anpassen. Das gleicht in weiten Teilen dem Nordirland-Deal inklusive Backstopp, den die EU Theresa May angeboten hatte."

Die New York Times sieht gute Chancen, dass Boris Johnson politisch gestärkt aus den Wirren der kommenden Tage und Wochen herauskommt - selbst, wenn das Unterhaus seinen Deal ablehnt:

"Johnson (...) könnte gewinnen, selbst wenn er verliert. Er kann zu Recht behaupten, einen Deal ausgehandelt zu haben, und dem Parlament die Schuld zuschieben. Vermutlich wird er dann (...) Neuwahlen ausrufen, in der Hoffnung ein Mandat für das zu bekommen, wogegen die paralysierte politische Klasse in Großbritannien sich so sehr sperrt: Großbritannien so schnell wie möglich aus der Europäischen Union zu führen."

Bei der Washington Post zeigt man sich erstaunt über Johnsons Verhandlungsgeschick:

"Die Experten haben den britischen Premierminister Boris Johnson konsequent unterschätzt. Noch vor wenigen Monaten gingen sie alle davon aus, dass die Europäische Union niemals den Ausstiegsdeal erneut zur Debatte stellen würde, auf den man sich mit seiner Vorgängerin Theresa May geeinigt hatte. (...) Die Ereignisse dieser Woche haben allerdings gezeigt, dass Johnson und sein Team beweglicher und klüger sind, als die Kommentatoren dachten."

Die liberal-konservative Tageszeitung Die Presse in Wien mahnt an, sich nach dem Brexit wieder anderen wichtigen politischen Fragen zuzuwenden:

"Großbritannien hat sich mit immer neuen Wendungen im Brexit-Drama um dieses Gefühl der eigenen historischen Bedeutung gebracht: den Aufbruch in eine neue - selbst gewählte - Freiheit, aber auch die Emotion der Trennung von den bisherigen Partnern. (...) Jetzt aber wollen alle nur, dass die Briten endlich aus der Tür treten und gehen. (...) Großbritannien hat zu lang die EU bei viel wesentlicheren Fragen paralysiert. Dann freilich gibt es in Brüssel und den EU-Hauptstädten keine Ausrede mehr, alle Kraft in die Bewältigung von Handelskriegen, Migrationsströmen und Klimakrisen zu investieren."

Beim Spiegel betont man die Zugeständnisse auf beiden Seiten:

"Es gibt einen Deal - und das ist erst mal eine gute Nachricht. Die EU saß bei den Verhandlungen von Anfang an am längeren Hebel, nicht zuletzt deswegen, weil sie die ökonomischen Folgen eines Brexit ohne Abkommen nicht ganz so hart treffen würde wie die Briten. Dem jetzt erzielten Kompromiss sieht man dieses Kräfteverhältnis jedoch nicht an. Beide Seiten haben nachgegeben, gerade auch die EU."

Die Zeit warnt hingegen vor den Problemen, die weiterhin ungelöst sind:

"(...) die Freude könnte von kurzer Dauer sein, weil auch diesem Kompromiss ein nahezu unauflöslicher Konflikt innewohnt. Mit der neuen Lösung, einer Zollgrenze in der Irischen See, haben (...) jene ein Problem, die davon am meisten betroffen sind: die Nordiren. Die nordirische DUP, auf die Johnson im Unterhaus angewiesen ist, hat bereits verkündet, dass sie dem Deal nicht zustimmen wird. Schon am Samstag soll im Londoner Unterhaus darüber entschieden werden. (...) Der amtierende britische Premierminister, der ohnehin über keine eigene Mehrheit im Parlament verfügt, hat nun entschieden, das Problem einfach zu ignorieren. Er will mit dem Kopf durch die Wand. Aber was soll das bringen?"

Ähnlich sieht das die Neue Zürcher Zeitung:

"Erreicht wurde in Brüssel ein wichtiges Etappenziel. Es eröffnet die Chance, dass sich schon innerhalb der nächsten Tage endlich klärt, ob sich ein Ausweg aus dem Brexit-Labyrinth auftut - oder ob ein Scheitern der Vereinbarung im Unterhaus eine Kaskade auslöst, die in einer erneuten Verschiebung des Brexits, einer baldigen Parlamentswahl oder einem neuen Referendum enden könnte. Die Einigung zwischen London und Brüssel bedeutet deshalb noch nicht das Ende des Brexit-Dramas, dessen Vorrat an Überraschungen kaum schon erschöpft ist. Aber sie könnte sich im Rückblick zumindest als das Ende des Anfangs erweisen."

Und der Standard aus Wien warnt unter dem Titel "Vorsicht, Europa!" vor der Unberechenbarkeit Boris Johnsons:

"Bei aller Erleichterung über die fast in letzter Minute erzielte Einigung in Brüssel sollten die Beteiligten eines nicht vergessen: Boris Johnson bleibt ein Mann, auf dessen Wort kein Verlass ist. Dem britischen Premierminister ist auch weiterhin zuzutrauen, dass er sein Land und die anliegenden Volkswirtschaften in den Chaos-Brexit stürzen würde, wenn ihm persönlich dieser sogenannte No Deal nutzt. All jene auf beiden Seiten des Ärmelkanals, die dieses Szenario zu Recht verhindern wollen, müssen auf der Hut bleiben."

Für die Stuttgarter Nachrichten sind die Chancen eines geordneten Brexit gestiegen:

"Die Chancen, dass es zu einem geordneten Brexit kommt, sind stark gestiegen. Sollte es Premierminister Boris Johnson gelingen, auch noch die letzten Hindernisse zu überwinden, wird er als großer Dealmaker in die britische Geschichte eingehen. (...) Sein Versprechen auf uneingeschränkte britische Handlungsfreiheit löst Johnson allerdings nicht ein. Auch er ist deutlich von seinen Maximalpositionen abgerückt."

Der Mannheimer Morgen sieht das deutlich anders:

"Bei allem Respekt vor dem Engagement der europäischen Verhandlungsdelegation um ihren Chef Michel Barnier sollte man nüchtern genug bleiben und feststellen dürfen, dass dieser Deal eben nur das ist, was Johnson zugelassen hat und was ihm nützlich erscheint. Der Vertrag klärt nichts, er beseitigt die Gefahr eines chaotischen Brexits ohne Abkommen ebenso wenig wie er einen geordneten Austritt leichter macht. Die Staats- und Regierungschefs wissen das. Sie ahnen, dass das Abkommen bereits am Samstagabend nach der Unterhaussitzung nur noch Makulatur sein könnte."

Die Leipziger Volkszeitung würdigt das Verhandlungsgeschick von Jean-Claude Juncker:

"Juncker ist ein Fuchs. Er hatte nie ein Problem damit, auf Englisch, Deutsch oder Französisch die vier Ecken eines Kreises zu beschreiben, wenn die diplomatische Situation dies gerade erforderte. So ist er auch jetzt vorgegangen. Es gibt keine Kollision, jeder wahrt erstmal sein Gesicht, auch Johnson. Dabei könnte der altsprachlich gebildete Absolvent von Eton und Oxford ahnen, dass Junckers mächtiges Brüsseler System ihn mit dem angeblichen Entgegenkommen in der Nordirland-Frage in Wahrheit politisch ausgetrickst hat. Wie sagte Vergil? "Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen."

faz.net geht hart mit dem Parlament ins Gericht:

"Ob der Deal zustande kommt, ist noch nicht abzusehen, denn das Unterhaus in London, dem in der jüngeren Vergangenheit die Fähigkeit zum Ja-Sagen abhanden gekommen ist, müsste ihm zustimmen. In London formiert sich aber bereits ein nicht auf Labour beschränkter Widerstand, von dem abzuwarten bleibt, ob er nur reflexhafter Natur ist. Vielleicht kommt es sogar noch zu einem zweiten Referendum. Die Euphorie, mit der die Finanzmärkte am Donnerstag die Nachrichten von einer Einigung zwischen Johnson und der EU-Kommission begrüßt haben, hielt jedenfalls nicht einmal zwei Stunden."

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