BR-Doku-Projekt:Alltag für alle

Am Freitag ist im Freistaat "24h Bayern" gedreht worden. In genau einem Jahr wird einen Tag lang ausgestrahlt werden, was am 3. Juni 2016 geschah. Eindrücke vom Drehtag.

Von David Denk

München-Neuperlach: David Dushman sitzt in der Küche seiner Drei-Zimmer-Wohnung im siebten Stock eines Wohnblocks, raucht und plaudert mit seiner Haushaltshilfe Valentina. Worüber sie reden? Schwer zu sagen. Sie sprechen Russisch. "Sie reden über uns", übersetzt Britt Beyer. Schließlich ist es absolut nicht alltäglich, in seinem Alltag gefilmt zu werden. Vor der Küchentür haben sich Kameramann Marcus, Tonmann Branko und Regisseurin Beyer aufgebaut. Nun verabreicht Valentina dem rauchenden Dushman sein Antibiotikum - aber wo sind die Augentropfen? Valentina schiebt sich an der Kamera vorbei ins Wohnzimmer. Auf dem Sideboard. Beyer hat sie gefunden und reicht sie ihr. "Spasiba." Valentina verschwindet wieder in der Küche und wendet sich ihrem Patienten zu.

David Dushman ist einer von 80 Protagonisten des BR-Mammut-Dokuprojekts 24h Bayern , darunter auch SZ-Chefredakteur Kurt Kister, die am Freitag auf Schritt und Tritt von einem Kamerateam begleitet wurden. Prominente Regisseure (Doris Dörrie, Franz Xaver Bogner, Marcus H. Rosenmüller, Andres Veiel) sind genauso dabei wie BR-Mitarbeiter und (noch) unbekannte Absolventen der Münchner Filmhochschule. Etwa ein Jahr später, Anfang 2017, wird dann von sechs Uhr an bis zum nächsten Morgen quasi in Echtzeit ausgestrahlt werden, was sie erlebt haben - oder auch nicht. "24h Bayern will ein zeitgeschichtliches Dokument schaffen", heißt es vom BR, "eine visuelle Chronik für die Nachwelt, die zeigt, wie wir in Bayern im Jahr 2016 gelebt haben."

"Wir planen das Unplanbare", beschreibt Projektleiter Volker Heise die Herausforderung

Nach 24h Berlin (RBB/Arte) und 24h Jerusalem (BR/Arte) ist es für die Berliner Produktionsfirma Zero One Film das dritte und bislang größte trimediale Projekt dieser Art, diesmal in Zusammenarbeit mit der Münchner megaherz GmbH. Mit etwa 1000 Stunden Drehmaterial wird am Ende gerechnet, allein die Drehgenehmigungen füllen vier Aktenordner, 500 Mitarbeiter sind beteiligt. "Wir planen das Unplanbare", hat Projektleiter Volker Heise beim Pressetermin am Dienstag gesagt.

Unterföhring bei München: In Halle 3 auf dem alten Bavaria-Gelände spielt Volker Heise Tischtennis. Wie immer am Drehtag hat er eher wenig zu tun und gleicht darin einem Fahrlehrer, der ja auch nur im Notfall ins Lenkrad greift. "Jedes Team muss jetzt seinen eigenen Weg finden", sagt Heise. Er hat sich Lakritze und Aspirin plus C bringen lassen. "Schlafentzug geht auf die Rübe", sagt er. Dreimal habe er in den letzten Wochen sein Portemonnaie verloren und - zur Überraschung des Berliners - immer vollständig zurückbekommen. "Es gibt Phasen in so einem Projekt", sagt Heise, "in denen man objektiv überfordert ist." Noch am Vortag musste umgeplant werden, weil Protagonisten kurzfristig abgesprungen oder Motive "geplatzt" sind. Wegen der Flut in Niederbayern wurden die drei bis vierköpfigen Drehteams auf ingesamt 104 aufgestockt. Abends um zehn hat Heise noch Thomas Kufus angerufen, Produzent von 24h Bayern, der nun mit einer Freiwilligen Feuerwehr im Katastrophengebiet unterwegs ist. Er macht Regie und auch Ton - die Branche ist abgegrast.

David Dushman, den eines der 104 Teams in Neuperlach trifft, ist ein Held ohne Wikipedia-Eintrag

Heise verhehlt nicht, dass er seinen Kompagnon beneidet. "Natürlich wäre ich auch gern draußen und würde drehen", sagt er, "aber das ist nicht meine Rolle bei diesem Projekt." Um später im Schnitt "gnadenlos gegenüber dem Material" sein zu können, dürfe kein eigenes dabei sein. Auch bei den Vorgaben an die Teams hat er sich, abgesehen von technischen Details, bewusst zurückgehalten: Auf Nachfrage habe er den Regisseuren schon verraten, warum er und Dushman-Begleiterin Britt Beyer, Chefrechercheurin von 24h Bayern, einen Protagonisten ausgewählt haben. Das musste aber reichen: "Von da an regiert das Erkenntnisinteresse der Regisseure und nicht mehr meins." Heises Handy klingelt. Das Team Kufus ist dran. Letzte Instruktionen: "Ja, okay, aber das dreht ihr auch schön szenisch immer, ne?" Und Mittagspause. Es gibt Hähnchencurry.

München-Innenstadt: "Die gehen, oder?", fragt Kameramann Namche Okon seinen Setaufnahmeleiter Johannes Kotzke mit Blick auf den Gemüsestand. Der nickt. Die beiden Filmhochschulabsolventen sind eines von 20 Impressionen-Teams, zuständig für Stadtansichten und Landschaftsaufnahmen, und gerade auf dem Viktualienmarkt unterwegs. Ohne Drehgenehmigungen und Einverständniserklärungen geht hier nichts. Größere Menschenansammlungen seien unkritisch, aber sobald jemand klar zu erkennen sei, erklärt Kotzke, muss derjenige ein Formular aus seiner dicken schwarzen Mappe ausfüllen. Da ist Charme gefragt, denn viele sind zwar mündlich einverstanden, zieren sich aber vor einer Unterschrift. Und ohne die darf das Material nicht verwendet werden. "Manchmal geht das so schnell, dass sich einer umdreht und man hat den plötzlich im Bild", sagt Okon. Als es gegen 11 Uhr zu regnen beginnt, sind er und Kotzke schon sieben Stunden im Einsatz. Ihr Drehtag hat um 4 Uhr auf dem Olympiaturm begonnen und wird gegen 17 Uhr mit dem Berufsverkehr am Olympischen Dorf enden.

Unterföhring bei München: Volker Heise sitzt auf einer Bierbank, trinkt Cola und betont die besondere Wichtigkeit der Impressionen-Teams bei 24h Bayern im Unterschied zu den Städten Berlin und Jerusalem. "Die Herausforderung ist es, den Raum zu erzählen, das Flächenland Bayern in seiner Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit", sagt der Projektleiter. 100 Teams seien so viel nicht: "Erzählerisch braucht man da viel mehr Mut zur Lücke." Mut ist überhaupt ein gutes Stichwort: Heise begreift Dokumentarfilm als eine "Experimentiersituation zwischen denen vor der Kamera, denen dahinter und der Kamera selbst". Man müsse also zulassen, "dass passiert, was passiert, und nicht, was du geplant hast". Das gefällt Heise an dem 24h-Format so: dass es andauernd auch seine eigenen Erwartungen unterläuft.

München-Neuperlach: David Dushman steht in seinem Wohnzimmer und präsentiert Regisseurin Britt Beyer, die er liebevoll "Diktator" ruft, sein mit mehr als 40 Orden behangenes Jackett. Valentina nennt es "Drei-Kilo-Sakko". Dushman trägt es einmal im Jahr, am 9. Mai, am Tag des Sieges . "Wir trinken viel und weinen", sagt er. "So viele Freunde sind begraben." Dushman ist ein Held ohne Wikipediaeintrag: Der Sohn eines Staatsfeinds im Stalin-Russland gehörte zu den Rotarmisten, die das KZ Auschwitz befreiten. Später studierte er nur seiner Mutter zuliebe Medizin. Dabei wollte er nichts sehnlicher als Fechten. Er wurde Profi, später Trainer bei Spartak Moskau und der Nationalmannschaft. Seine Schüler gewannen zig Titel und Medaillen. "Alle meine Kinder", sagt Dushman und zeigt auf die Fotos auf dem Sideboard. Er hat viele Fotos; viele, auch schmerzvolle Erinnerungen. "Ich hatte wirklich sehr schweres Leben" sagt er. Kein Selbstmitleid - eine nüchterne Bilanz. Dann muss Dushman sich fertig machen, um zum Training nach Neuaubing zu fahren. Er nimmt das Auto. David Dushman ist 93 Jahre alt.

Making of "24h Bayern", BR, 20.15 Uhr. Weitere Informationen: 24hbayern.de.

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