Blog aus den französischen Banlieues:Aus der Wut geboren

Riots, Paris, 2005

Flammender Zorn: 2005 machten gewaltsame Unruhen in den sozialschwachen Pariser Vororten Schlagzeilen. (Archivbild)

(Foto: Reuters)

Vor zehn Jahren brannten die Pariser Banlieues. Damals entstand "Bondy Blog" - ein Forum für Jugendliche aus den sozialschwachen französischen Vororten. Die Autoren kennen heute drängendere Probleme als die ewige Kopftuch-Debatte.

Von Joseph Hanimann

Fragt man Nordine Nabili im Pariser Vorort Bondy, was sich für ihn seit zehn Jahren verändert hat, fragt der Journalist scharf zurück: Hier in der Vorstadt oder bei uns? In der Vorstadt, seinem Arbeitsort, hat sich seit den Gewaltausbrüchen des Jahres 2005 wenig geändert. "Bei uns" hingegen, das bedeutet beim Internetmedium Bondy Blog. Dort, bei dem wohl interessantesten Ergebnis aus den bewegten Banlieue-Tagen, hat sich in den zehn Jahren einiges getan. Ein neuer Typus von Journalisten wächst da heran, der das brisante Thema "Vorstadt und Medien" von innen her sachte aus den Angeln hebt.

Die Anfänge des Bondy Blog sind so erstaunlich wie seine Dauerhaftigkeit. Im Herbst 2005 brannte es in manchen Pariser Vorstädten, nachdem zwei von der Polizei verfolgte Jugendliche in einer Transformatorenstation ums Leben kamen. Das Schweizer Wochenmagazin L'Hebdo schickte damals seine Reporter nicht direkt in die französische Hauptstadt, sondern in die nordöstliche Vorstadt Bondy. Sie hatten das Ziel, dort ein festes Korrespondentenbüro einzurichten, die unmittelbar Betroffenen anzuhören und vornehmlich aus deren Perspektive von den Ereignissen zu berichten. Ein paar Monate später zogen die Schweizer sich wieder zurück, übergaben das Büro aber einem Verein aus Ortsansässigen, die unter der Leitung des Journalisten und Journalistikprofessors Nordine Nabili das Abenteuer bis heute fortführen.

Das Internetmedium Bondy Blog behandelt alle Themen, vom Lokalen bis hin zur Weltpolitik, jedoch immer aus der Perspektive der jungen Autoren zwischen 17 und 35 aus der Banlieue. Jeden Dienstagabend ist Redaktionskonferenz. Da kommen die drei Dutzend Blogger zusammen, legen die Themen der Woche fest und stellen dann mit einer Durchschnittsfrequenz von zwei Artikeln pro Tag ihre Texte ins Netz. Das kann ein Bericht über Solidaritätsmärsche für die verfolgten Christen im Orient und in Afrika sein, über die Verhandlung eines neuen Prostitutionsgesetzes im französischen Senat oder über die Gemeinde der Exil-Tibetaner in Paris.

Wider das Klischee vom Jugendlichen mit verkehrt aufgesetzter Mütze

Mittlerweile gilt der Blog als gute Adresse für Profijournalismus, der soziale Hürden überwindet. Ableger von Brüssel bis Lyon sind so entstanden. Seit September 2007 bildet der Bondy Blog seine Schreiber auch aus, an seiner "École du Blog". Und seit 2009 besteht eine Partnerschaft mit Frankreichs angesehenster Journalistenschule, der École Supérieure de Journalisme in Lille, mit dem Ziel, Kandidaten aus der Vorstadt für die Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Manche Blogger, die beim Bondy Blog angefangen haben, soziale und kulturelle Ressentiments erfahren haben, sind heute als Profis in großen Rundfunk- und Zeitungsredaktionen tätig.

"Anfangs luden wir Leser, deren Kommentare zu unserem Blog uns gefielen, ein, selber als Autoren zu schreiben", erzählt Nordine Nabili, heute sei die Unternehmung so berühmt, dass die Autoren von sich aus kämen. Etwa jeder dritte Neuankömmling bleibt schließlich auch dabei. Wobei da jetzt nicht lauter Jugendliche mit verkehrt aufgesetzter Mütze und verrutschten Jeans dabei sind, sagte Nordine Nabili schon am Telefon.

Pro und Kontra Kopftuch? Nicht schon wieder!

Tatsächlich spiegeln die jungen Frauen und Männer am großen Redaktionstisch in Bondy die ganze Vielfalt der Vorstadtbevölkerung, mit oder ohne Migrationshintergrund. Die Diskussion für oder gegen das islamische Kopftuch beispielsweise möchten manche als Thema immer neu behandeln, andere - oft gerade Frauen - wollen davon nichts mehr hören. Zu ihnen gehört Widad Ketfi, mit ihren sieben Jahren Redaktionsmitgliedschaft schon eine Veteranin des Bondy Blogs. Sie setzt andere Prioritäten: kritisiert die Chancenungleichheit in den Schulen und die Zementierung gesellschaftlicher Hierarchien durch die Elite-Kultur, indem etwa bei Prüfungen des Allgemeinwissens immer wieder dieselben Fragen über Molière, Mozart, Michelangelo auftauchten. Aber nie eine Frage über zum Beispiel algerische Gegenwartsliteratur, die sie aufgrund ihrer Herkunft besonders gern lese.

Solche Anliegen können die jungen Blogger den politischen Verantwortungsträgern auch direkt ins Gesicht sagen. Denn seit 2011 empfängt die Redaktion einmal im Monat einen Gast für die Aufzeichnung der Fernsehdebatte Bondy Blog Café, die von der öffentlichen Anstalt "France Ô" ausgestrahlt wird. Mehrere Minister und prominente Oppositionspolitiker standen den jungen Bloggern bereits Rede und Antwort. Zuletzt saß die Kultur- und Kommunikationsministerin Fleur Pellerin am Tisch der Brasserie Le Murat, gleich neben dem Bahnhof von Bondy, die dem Bondy Blog Café als Aufnahmestudio dient.

Diese Sendungen bringen dem Bondy Blog ein bisschen Geld ein. Die Hauptfinanzierung kommt jedoch von der Region Ile-de-France und von der Staatskasse: je 50 000 Euro im Jahr. So erfreulich das sein mag, sieht Nabili darin zugleich ein Problem. Denn er versteht Bondy als professionelles Medienunternehmen. Aber im Frankreich, diesem Land mit vielen Standesvorurteilen, klagt der Direktor, würden der Blog auch wegen der Finanzierungsform vor allem als sozio-kulturelles Aktionsprogramm für die Problemviertel wahrgenommen.

"Als stünde uns für immer das Wort 'Banlieue' auf die Stirn geschrieben"

Kein einziger öffentlicher oder privater Medienkonzern habe in all den Jahren eine dauerhafte Investition in den Bondy Blog in Erwägung gezogen. Es gab nur befristete Partnerschaften mit Le Monde, Radio France oder gegenwärtig mit der Zeitung Libération. "Zu einer gleichwertigen Zusammenarbeit unter Kollegen haben wir es nie gebracht, als stünde uns für immer das Wort 'Banlieue' auf die Stirn geschrieben", konstatiert der sonst heitere Nabili bitter. Angesichts dieser anhaltenden Vorurteile sieht er keine gute Zukunft für die Vorstädte.

Was früher als Randgebiet für die Unterprivilegierten nur ein schlechtes Gewissen bereitete, meint er, mache der Stadtgesellschaft heute als Siedlungsraum der "anderen", schwer Integrierbaren, nur noch Angst. Die von den Medien vermittelten Klischees von der Vorstadt tragen dafür seiner Ansicht nach eine große Verantwortung. Die Klischees seien wie Wälle, in welche die bunten und vielschichtigen Artikel des Bondy Blog nur kleine Breschen schlagen können.

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